Mord zur Geisterstunde
alle Optionen gegeneinander abgewogen. Am besten war ein Ort voller Menschen. Aber zu öffentlich durfte er auch wieder nicht sein. Das Treffen musste irgendwo stattfinden, wo niemand die Transaktion bemerken würde. Es musste bequem zu erreichen sein, am besten zu Fuß. Er entschied sich für den idealen Ort.
»Im Theatre Royal gibt es heute eine Nachmittagsvorstellung. |240| Kaufen Sie zwei Karten für Plätze nebeneinander. Hinterlassen Sie eine für mich an der Kasse. Gehen Sie schon hinein. Ich geselle mich dann zu Ihnen.«
Die Leitung war tot.
Simon seufzte erleichtert. Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. Er schob den Ärmel hoch und schaute auf die Uhr. Neunzig Minuten bis zum Vorhang. Da hatte er noch jede Menge Zeit, um sich in Ruhe vorzubereiten und von den Dingen zu träumen, die da kommen würden.
Die Planung für das größte Projekt, das er je in Angriff genommen hatte, hatte ihm Appetit gemacht. Er breitete die Hochglanzbroschüren auf dem Schoß aus, zog die warme Pastete aus der Papiertüte und nahm den Deckel vom Kaffeebecher. Alles lief nach Plan.
Wenn die Prospekte nicht gewesen wären, hätte sich die Wartezeit lang hingeschleppt. Simon las den Namen auf der Karte, die ihm die Frau im Reisebüro gegeben hatte. Glenys Watkins. Sie hatte so nett gelächelt und wirklich gut gerochen. Natürlich würde er da wieder hingehen. Sobald er das Geld hatte, würde er die paar Habseligkeiten packen, die er mitnehmen wollte, und für immer die Tür hinter seinem Zuhause und seiner Mutter schließen. Dann würde er zum Busbahnhof gehen, den Bus nach Heathrow nehmen und mit der nächsten Maschine irgendwohin in Südamerika fliegen – egal wohin. Bei dem Gedanken an ein neues Leben, weit weg von seiner Mutter, wurde ihm ganz kribbelig. Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht. Vielleicht würde er Glenys fragen, ob sie mitkommen wollte? Schließlich wäre er dann reich. Echt unwiderstehlich!
Als es Zeit zum Gehen war, verfütterte er die letzten Krumen an die Tauben, die sich um seine Füße geschart hatten. Als umweltbewusster Bürger knüllte er die Papiertüte zusammen, in der er die Pastete mitgebracht hatte. Tüte und Becher wanderten in den Papierkorb.
Er bürstete sich noch die Krümel von der Hose und weckte damit erneut das gefräßige Interesse seiner gefiederten Freunde.
Er vergrub die Hände in den Taschen wie der tolle Kerl, der er |241| gern gewesen wäre, und spazierte leise pfeifend fort, die Reiseprospekte in die Manteltasche gestopft.
Vor dem Theater stand ein Reisebus. Mit viel Hilfe kletterte eine Gruppe von Senioren heraus und wurde ins Gebäude verfrachtet. Simon blieb ein wenig zurück und schaute sich mit milder Verachtung die grauhaarigen Mütterchen und schlohweißen Herren an. Manche hatte Spazierstöcke, andere Rollatoren. Bei diesem Anblick stahl sich ein selbstzufriedenes Grinsen auf seine Züge. Sie erinnerten ihn an seine gebrechliche und egoistische Mutter, die ihn tyrannisierte. Nie im Leben wollte er werden wie die da, niemals mit der Herde laufen wie ein altes Schaf, das zum Schlachter getrieben wird, mit dem Blick auf sehr viel Vergangenheit und kaum noch Zukunft.
Auf ihn wartete jede Menge Zukunft. Auch im Alter würde er unabhängig sein, denn er würde das nötige Kleingeld dafür haben. Und warm würde er es haben. Die meisten dieser südamerikanischen Länder hatten doch ein Klima, in dem man das ganze Jahr hindurch in Hemdsärmeln herumlaufen konnte. Er stellte sich vor, wie er den Glenys Watkins’ dieser Welt seinen gestählten Oberkörper vorführen würde. O ja! Für ihn ging es jetzt ganz steil bergauf!
Er schaute auf die Uhr. Er würde das Theater erst betreten, wenn die Saallichter ausgegangen waren und die Vorstellung jeden Augenblick beginnen würde.
Die Senioren und alle anderen Besucher bewegten sich im Foyer langsam in Richtung Zuschauerraum. Man kam sich in dieser Gesellschaft vor wie im Wartezimmer Gottes, schoss es ihm durch den Kopf. Sein sehnlichster Wunschtraum war früher gewesen, seine Mutter würde endlich das Zeitliche segnen. Dann hätte er die Wohnung und ihr Bankkonto geerbt – wie viel oder wenig dabei auch immer herausgesprungen wäre. Aber jetzt war alles anders. Nur Bares ist Wahres. Er konnte einfach nicht mehr darauf warten, dass sie sterben würde.
Inzwischen war die Menschenmenge bis auf zwei Leute verschwunden. Simon hielt Ausschau nach der Person, auf die er wartete. Er schaute noch einmal auf die Uhr.
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