Mord zur Geisterstunde
Sonst war niemand |242| gekommen. Entweder würde sein Kontaktmann die Verabredung nicht einhalten, oder er wartete bereits am Platz. Simon entschied sich für die zweite Möglichkeit. Davon hingen all seine Pläne ab.
Mit klopfendem Herzen und staubtrockenem Mund ging er zur Abendkasse. Eben reichte jemand der Kartenverkäuferin eine Tasse Kaffee. Geld einnehmen und Karten überprüfen, davon bekam man wohl Durst. Er wollte eigentlich darüber lachen, lächelte aber statt dessen munter weiter – wenn auch ein wenig nervös, weil vielleicht niemand aufgetaucht war.
Die Kassiererin stellte ihre Tasse ab und erkundigte sich, ob sie ihm helfen könnte.
»Eine Karte unter dem Namen Taylor. Jemand hat sie hier für mich hinterlegt.«
Sie suchte in einem kleinen Kästchen mit der Aufschrift »Re servierungen .«
»Ja, da hätten wir sie. Alles schon bezahlt.«
Simon nahm die Karte entgegen und bedankte sich. Sein Herz schien irgendwo im Hals laut zu pochen. So aufgeregt war er.
Die Karte war für einen Platz in der Loge vor dem ersten Rang. Mit verschwitzter Hand packte er das Messinggeländer und stieg die Treppe hinauf. Das Saallicht ging gerade aus, als er die Tür zur Loge öffnete und in die Dunkelheit trat. Die Vorstellung hatte bereits begonnen: die Premiere einer Wiederaufnahme von
Hello, Dolly!
Er verzog angewidert das Gesicht und hoffte, dass er die Sache schnell über die Bühne bringen würde. Er hasste Musicals. Er konnte einfach nicht begreifen, wieso jemand sich so etwas ansehen wollte. Anscheinend teilten viele Leute seine Meinung. Das Theater war halbleer. Die meisten Zuschauer saßen unten im Parkett. Im ersten Rang waren nur ein paar vereinzelte Gestalten auszumachen, wahrscheinlich die wenigen, die es überhaupt noch die Treppe hinauf schafften. Sein Platz befand sich in der einzigen Loge. Eine gute Wahl. Öffentlich, aber trotzdem im Schatten und ein wenig abseits.
Die Bühne war in strahlendes Scheinwerferlicht getaucht, das sich auch auf den nach oben gewandten Gesichtern der Zuschauer |243| und auf den verschnörkelten Verzierungen des Saales widerspiegelte.
In der Loge, die Simon gerade betreten hatte, saß eine Gestalt. Der Mann hatte sich nach vorn gelehnt und stützte die Arme auf das Geländer. Er hatte Simon hereinkommen hören und wies nun mit einer Handbewegung auf einen bereits heruntergeklappten leeren Sitz, der ihn erwartete.
Simons Gedanken explodierten wie ein Feuerwerk! Endlich war es so weit! Der große Augenblick war gekommen.
Simon richtete den Blick auf den Mann, den er hier treffen wollte, und nahm Platz. Er japste überrascht auf, denn er hatte ein scharfes Stechen im Oberschenkel verspürt. Wahrscheinlich eine Sprungfeder aus der Polsterung. Sonst nichts. Diese Sitze waren ja uralt. Höchste Zeit, dass hier mal renoviert wurde, überlegte er, und lehnte sich zurück.
Aber was machte es unter solchen Umständen schon, wenn man ein wenig unbequem auf einem alten Polster saß? Zudem spürte er den Schmerz auch gar nicht mehr. Eigentlich hatte er überhaupt kein Gefühl mehr im Oberschenkel. Er versuchte, sein Gewicht ein wenig zu verlagern, doch diese Sprungfeder hatte sich tief in sein Bein gegraben, und er konnte sich nur ein wenig bewegen. Er wollte sich zu seinem Gegenüber wenden und ihm mitteilen, wie er sich fühlte.
»Etwas …« Doch nun gehorchte ihm auch die Zunge nicht mehr. Eine schreckliche Taubheit kroch durch all seine Glieder nach oben. Ihm verschwamm alles vor den Augen.
Langsam, ganz langsam hob er die Hand, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sie sank ihm nur schlaff in den Schoß. Die andere Hand hatte er schon an sein pochendes Herz gedrückt. Es schlug rascher und immer rascher, hämmerte gegen die Rippen.
Da hörte er eine Stimme. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich möchte die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich hasse Musicals. Und es ist so heiß hier …«
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er spürte, wie sie ihn fest nach unten drückte. Dieses Ding, was immer es war, hatte |244| ihn praktisch aufgespießt, bohrte sich in sein Fleisch. Mit seinen letzten, schwindenden Gedanken wurde ihm klar, dass das keine Sprungfeder gewesen sein konnte. Er versuchte erneut, sich mit zitternder Hand die Stirn zu wischen – und griff daneben. Er wollte aufstehen, doch die Beine versagten ihm den Dienst. Der Zuschauerraum und die Bühne verschwammen zu einem Bild von Dunkel mit hellen Flecken, von
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