Mord
sei groß, und er würde da schon noch Platz finden.
Die Liebe zu Reni brachte alles aus dem Lot, sagte Fritz Wolkow später. Reni war halt ein anderes Kaliber als Mohrchen oder Evi, sie stand irgendwie über ihm, sie erbarmte sich seiner, das zeigte sie natürlich nicht so, aber so war es halt, und dann schlief sie auch aus reinem Mitleid gleich beim ersten Hafturlaub mit ihm.
Danach verbot sie sich das natürlich und gab auch nie zu, dass etwas passiert war – da war der erste Sprung in ihrer Beziehung, die schon sehr kompliziert war. Man schrieb sich lange Briefe, und keiner schaute mehr durch, was eigentlich Sache war. Die deutsche Literatur handelt ja durchaus viel von der Liebe, von komplizierten Liebesverhältnissen, man denke nur an
Die Wahlverwandtschaften
, aber Renate Schuster hatte manches, was sie sich nicht zugestehen wollte, auch nicht recht auf dem Schirm, zum Beispiel dass es nicht ungefährlich war, so einen kleinen proletarischen Stier am Nasenring zu führen und die Erregung zu verleugnen, die das bei einer kultivierten, fortschrittlichen und vorurteilsfreien Frau auslöste.
Für Fritz lagen die Dinge anders herum. Reni war ja nicht allein, sie war Teil einer Gruppe, die sich um einen engagierten Professor geschart hatte: Das war die Art von Leuten, die seine Mutter bewundert hatte, Akademiker und Intellektuelle, die sich sehr gebildet unterhalten konnten. Sie nahmen ihn mit zum Italiener, da begegnete er Lebensart, Essens- und Weinkultur – der ultimative Kontrast zu Haus 3 in Tegel. So eine Frau zu gewinnen, zu besitzen, er als Knacki, das wäre ein Ding, das wäre ein ganz besonderer Neustart, da wäre ja noch alles möglich. Er würde in die WG ziehen – das war nicht utopisch, er hatte von solchen Dingen schon gehört. Das war die neue Zeit, nicht mehr Nachkriegszeit, sondern der soziale Aufbruch, mehr Demokratie wagen, jedem eine neue Chance.
Man darf sich Fritz Wolkow, auch als er schon lange die lebenslange Freiheitsstrafe verbüßte, nicht als reuigen, geknickten Mann vorstellen, der bescheiden und weise geworden wäre. Bescheiden in seinen materiellen Ansprüchen, aber nicht in seinen Erwartungen an andere. Wenn er nicht aktiv unterbrochen wurde, wozu man ihm ins Wort fallen musste, redete er fortlaufend weiter. Er war dabei unterhaltsam, erzählte viele Geschichten aus der Haftanstalt, die insbesondere erläuterten, was hier alles schiefging und früher schiefgegangen war, im Wesentlichen durch die Dummheit und Beratungsresistenz der Bediensteten.
Er wirkte gesellig, die ausgiebige Selbstdarstellung war ihm ein Anliegen. Sprachlich schwankte er, je nach Thema, zwischen einer plastischen und drastischen Gefangenensprache und einem blutleeren Psychojargon; er hatte im Laufe der Jahre auch sogenannte Therapeuten gehabt, aber das meiste hatte er wohl schon vorher gelernt, zu der Zeit, als man sich in WG s psychologisierend in Grund und Boden quatschte, bis man jegliche Orientierung verloren hatte.
Wolkow präsentierte sich nun, viele Jahre später, als langgedienter, erfahrener Strafgefangener, der die Phase der jugendlichen Rebellion lange hinter sich gelassen hatte und mit der Ruhe und Erfahrung des Alters den Frischlingen vernünftige Ratschläge zu geben wusste. Nur in den ausgiebigen Geschichten über das Fehlverhalten der Beamten wurde die klare Trennung zwischen seiner Seite und der anderen deutlich und lebte etwas von der alten rebellenhaften Position fort.
Selbstverständlich wollte er raus, selbstverständlich war er nicht mehr gefährlich. Und er hatte ja 18 Jahre lang im Knast Leistung abgeliefert, richtig Buchdrucker gelernt, die Gefangenenzeitung von einem Friedhofsblatt, schwarz auf rauem grauem Recyclingpapier, zu einer farbigen, intensiv gelesenen Zeitschrift entwickelt. Er war die Zuverlässigkeit in Person, durfte sich im geschlossenen Gelände frei bewegen. Allerdings sprach er auch nicht unbedingt immer nett über Reni, manchmal etwas herablassend, der Groll war nicht gewichen.
Er sagte, Frau Schuster sei unwahrscheinlich hilfsbereit gewesen. Aber auch sehr empfindlich, sie hatte ein paar Schicksalsschläge hinter sich. Sie stammte aus gutbürgerlichen Verhältnissen, war verheiratet gewesen, der Mann hatte sie dann betrogen. Dem Knast gegenüber war sie sehr unkritisch, blauäugig, auch den Gefangenen gegenüber. Nach der Devise «Allen wohl und niemand weh». Er habe nie einen Menschen gesehen, der so betroffen war und so viel nicht wahrhaben
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