Mord
seinem Auto, an dessen Scheibenwischer ein Zettel vom Ordnungsamt hing. Er nahm ihn weg, zerknüllte ihn und warf ihn auf die Straße. Er stieg ein, schnallte sich an und fuhr davon, nicht in die Richtung seiner Wohnung, sondern in die entgegengesetzte. Er dachte an seinen Hund, den er in der Wohnung zurückgelassen hatte – seine Schwester würde ihn finden und für ihn sorgen. Auf einer breiten, geraden Straße, die aus der Stadt hinausführte, beschleunigte er kräftig. Einige hundert Meter vor ihm schaltete gerade die Ampel auf Rot, und ein orangefarbener großer Betonmisch- LKW hielt an. Gerd Fuhrmann fixierte den Laster, hatte noch 30 Sekunden zu fahren, dann rauschte er ungebremst in das Baufahrzeug. Von seinem Toyota war nur noch die hintere Hälfte zu sehen.
Iris Franke wurde am Nachmittag dieses Tages unruhig. So lange war der Mann noch nie weggeblieben. Sie war hungrig. Zu trinken hatte sie, das Kellergeschoss war ja fast wie eine Wohnung, drei Zellen, ein Aufenthaltsraum, ein gekacheltes Bad. Und er hatte sie am Morgen nicht gefesselt, sie konnte hingehen und trinken. Aber sie war hier trotzdem lebendig begraben, wenn er nicht wiederkam. Wieso kam er nicht wieder? Abends, so zwischen neun und zehn, hörte sie entfernt Geräusche im Haus. Aha, endlich, nun würde er wohl gleich herunterkommen. Aber schon nach wenigen Minuten dachte sie: Es wird besser sein, wenn ich rufe, wenn ich klopfe, mich irgendwie bemerkbar mache, vielleicht ist es ja jemand anderes. Sie hämmerte mit beiden Händen gegen die Stahltür, schrie, hielt inne, horchte. Es war nichts mehr zu hören, alles war ganz still. Vielleicht rührte er sich oben nur nicht, weil er ins Bett gegangen war. Oder es war niemand mehr im Haus. Oder vielleicht war es der Hund gewesen, obwohl sie den eigentlich nie hören konnte, der bellte zu Hause nicht und lief auf leisen Sohlen. Sie blieb lange wach, lauschte immer wieder. Dann schlief sie ein, es tat sich nichts mehr in dieser Nacht.
Auch nicht am nächsten Tag. Auch nicht am folgenden Tag. Iris wusch sich. Iris trank. Iris hungerte. Iris war verzweifelt. Sie lief auf und ab, sie machte Gymnastikübungen, aber das Grübeln war nicht zu stoppen, die Todesangst: Er ist weg. Er kommt nicht wieder. Er ist mit seiner Gangsterbande unterwegs. Einfach in Urlaub gefahren. Er hat sich umgebracht. Er ist festgenommen worden und erzählt nichts von mir. Aber dann wäre die Polizei ins Haus gekommen. Er hatte einen Unfall. Er hatte einen Herzinfarkt und lag im Krankenhaus. Nun war er schon drei Tage nicht mehr aufgetaucht.
Fuhrmann war tatsächlich im Krankenhaus. Man hatte ihn mühsam aus dem Autowrack geschnitten und ins Klinikum gebracht; er hatte ein massives stumpfes Bauchtrauma und Hirnverletzungen und lag auf der Intensivstation, wurde beatmet und war nicht ansprechbar. Man fand heraus, dass die Mutter ebenfalls im Krankenhaus lag und dass die einzige Verwandte seine Schwester war, die auch nicht weit entfernt von ihm wohnte. Sie wurde abends benachrichtigt und fuhr gleich ins Krankenhaus. Als sie zurückgekehrt war, ging sie hinüber zur Wohnung ihres Bruders, um für den nächsten Krankenhausbesuch einen Schlafanzug, Waschzeug und einige sonstige Habseligkeiten zu holen und den Schäferhund zu füttern und mitzunehmen. Als sie in dem dunkel daliegenden Haus, vor dem der Kirschbaum blühte, nach den Sachen suchte, hörte sie leise eigentümliche Geräusche, wie Klopfen, die schwer zu verorten waren, sie kamen eher von unten als von oben. Sie schaute sich etwas um, fand aber nichts Auffälliges, vielleicht war etwas mit der Heizung. Sie drehte den Thermostat herunter, Gerd war ja ohnehin nicht zu Hause, und ging. Zu Hause vergaß sie die Geräusche.
Drei Tage später ging die Schwester zusammen mit ihrem Mann und dem Hund wieder in Fuhrmanns Haus, in das Haus ihrer Mutter, und sie ging auch in den Keller, um zu schauen, ob da noch eingewecktes Obst und Gemüse war, das ihre Mutter jetzt wohl kaum noch verwenden würde. Das war der normale Keller, von dem alle wussten, dass es ihn gab; von dem Sadomaso-Keller hingegen wussten nur drei Menschen und die junge Frau, die darin saß. Iris bemerkte, dass jemand im Haus war, sie fing wieder an zu trommeln und zu schreien, bis zur Erschöpfung. Fuhrmanns Schwester hörte es, sie war sich jetzt sicher, dass da ein Mensch sein musste, sie holte ihren Mann, der hörte es auch, aber sie wussten nicht, wo es herkam. Es war nicht im Keller, es war
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