Morddeutung: Roman (German Edition)
abnormes Verhalten an den Tag legt, lässt auf ein mangelndes Bewusstsein eigener Krankheiten schließen. Nehmen Sie sich die Freiheit, die Sie brauchen. Und ersparen Sie mir Ihre Freundschaft. Leben Sie wohl.«
Freud öffnete die Tür, um Jung vorbeizulassen. Beim Hinausgehen konnte sich Jung ein letztes Wort nicht verkneifen. »Sie werden schon sehen, was das für Sie bedeutet. Der Rest ist Schweigen.«
Im Gramercy Park war es erstaunlich kühl und friedlich. Lange Zeit, nachdem Nora davongelaufen war, saß ich noch immer auf der Bank und starrte auf ihr Haus, dann hinüber zu dem alten Haus von Uncle Fish an der Ecke, das ich als Junge immer besucht hatte. Uncle Fish hatte uns nie den Schlüssel zum Park anvertraut. In meiner Verwirrung dachte ich zuerst, dass ich jetzt eingesperrt war, da Nora ihren Schlüssel ja mitgenommen hatte. Dann fiel mir ein, dass der Schlüssel bestimmt nur zum Betreten, nicht aber zum Verlassen des Parks nötig war.
Obwohl mir Freuds Ödipustheorie in jeder nur erdenklichen Weise verhasst war, konnte ich nun nicht mehr umhin, ihre Richtigkeit einzuräumen. Dabei hatte ich mich so lange dagegen gewehrt. Sicherlich hatten einige meiner Patienten Bekenntnisse abgelegt, die für eine ödipale Deutung offen gewesen wären. Aber noch kein Patient hatte unumwunden und ohne jede Schönfärberei inzestuöse Wünsche zugegeben.
Nora hatte genau das getan. Gewiss bewunderte ich ihre Selbstwahrnehmung. Aber ich fühlte mich auch hoffnungslos abgestoßen.
»Geh in ein Kloster.« Ich musste an Hamlets gleich nach Sein oder Nichtsein mehrfach ausgesprochene Aufforderung an Ophelia denken, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Würde sie »Sünder zur Welt bringen?«, fragt er sie. »Sei so keusch wie Eis … du wirst der Verleumdung nicht entgehn.« Würde sie ihr Gesicht bemalen? »Gott hat dir ein Gesicht gegeben, und du machst dir ein anderes.«
Ich glaube, die Logik meines Herzens sah folgendermaßen aus: Ich wusste, dass ich es von nun an nicht mehr ertragen konnte, Nora zu berühren. Allein schon so von ihr denken zu müssen ging fast über meine Kräfte. Doch gleichzeitig wollte ich verdammt sein, ehe ich die Vorstellung ertrug, dass ein anderer Mann sie berührte.
Mir ist klar, wie irrational meine Reaktion war. Nora war nicht verantwortlich für ihre Gefühle. Schließlich hatte sie sich ihre inzestuösen Wünsche nicht ausgesucht. Das wusste ich, aber es änderte nichts.
Ich erhob mich von der Bank und fuhr mir mit den Händen durchs Haar. Dann zwang ich mich, die medizinischen Aspekte des Falls ins Auge zu fassen. Immerhin war ich noch ihr Arzt. Klinisch betrachtet war Noras Bekenntnis, dass sie den Überfall von letzter Nacht aus der Vogelperspektive beobachtet hatte, weitaus bedeutsamer als das Eingeständnis ödipaler Wünsche. Ich hatte ihr zwar versichert, dass solche Erfahrungen im Traum gang und gäbe waren, doch in Verbindung mit der sehr realen Brandwunde auf ihrer Haut ließ ihr Bericht eher auf eine Psychose schließen. Wahrscheinlich war eine Analyse für sie gar nicht ausreichend. Möglicherweise war sie in einer Heilanstalt besser aufgehoben. Geh in ein Sanatorium.
Dennoch mochte ich nicht glauben, dass sie sich die ersten Verletzungen – die brutalen Peitschenhiebe vom Montag – selbst zugefügt hatte. Und auch dass der Überfall von letzter Nacht eine Halluzination gewesen sein sollte, stand für mich noch nicht zweifelsfrei fest. Irgendeine Erinnerung im Zusammenhang mit meinem Medizinstudium schwirrte mir immer wieder durch den Kopf, ohne dass ich sie dingfest machen konnte.
Die New York University lag nur ein paar Straßen weiter. Wie sich herausstellte, war das Tor zum Gramercy Park tatsächlich abgeschlossen. Ich musste hinausklettern und kam mir dabei unerklärlicherweise wie ein Verbrecher vor.
Beim Überqueren des Washington Square schritt ich durch Stanford Whites monumentalen Triumphbogen und dachte staunend darüber nach, wie mörderisch die Liebe sein konnte. Was hätte der große Architekt nicht noch alles bauen können, wenn er nicht von einem verrückten, eifersüchtigen Ehemann niedergeschossen worden wäre – demselben Mann, den Jelliffe nun aus der Anstalt holen wollte?
Einige Häuser weiter betrat ich die ausgezeichnete Bibliothek der New York University. Ich begann mit Professor James’ Arbeit über Lachgas, die ich noch von Harvard her gut kannte, konnte aber nichts finden, was der Beschreibung entsprach. Auch die allgemeinen
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