Morddeutung: Roman (German Edition)
Freud lachte verächtlich, als er sich an sein letztes Gespräch mit Jung erinnerte. »Er lehnt Ödipus ab. Er hat sich von der sexuellen Ätiologie losgesagt. Er leugnet sogar, dass die Kindheitserlebnisse eines Menschen die Ursache von Neurosen sein können. Deshalb haben sich die etablierten Mediziner Ihres Landes auch hinter ihn gestellt und nicht hinter mich. Und Ihr Präsident Hall hat offenbar die Absicht, sich diesem Beispiel anzuschließen.«
Die beiden Männer waren zu beiden Seiten der Schwelle von Freuds Hotelzimmer stehen geblieben. Freud bat Younger nicht herein. Beide warteten stumm.
Schließlich brach Younger das Schweigen. »Ich war zweiundzwanzig, als ich zum ersten Mal Ihre Werke gelesen habe, Sir. Damals habe ich sofort gewusst, dass Sie die Welt für immer verändert haben. Ihre Schriften enthalten die wichtigsten Ideen des Jahrhunderts. Amerika hungert nach ihnen, da bin ich ganz sicher.«
Freud öffnete den Mund zu einer scharfen Erwiderung, aber die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Er seufzte. »Sie sind ein guter Junge, Younger. Es tut mir leid. Aber was den Hunger angeht, da würde ich nicht so viel darauf geben: Ein hungriger Mensch isst alles, was er kriegen kann. Dabei fällt mir ein, wir sind heute Abend wieder bei Brill zum Abendessen eingeladen. Ferenczi ist schon unterwegs. Möchten Sie nicht auch kommen?«
»Ich kann nicht. Ich wäre nicht in der Lage, die Augen offenzuhalten.«
»Um Himmels willen, was haben Sie denn die ganze Zeit getrieben?«, erkundigte sich Freud.
»Es wäre schwer, meine letzten vierundzwanzig Stunden zu beschreiben, Sir. Zuletzt war ich mit Miss Acton zusammen.«
»Ich verstehe.« Freud war nicht entgangen, dass Younger darauf hoffte, hereingebeten zu werden, aber einem Gespräch über Miss Actons Behandlung war er jetzt einfach nicht gewachsen. Freud fühlte sich mindestens ebenso erschöpft, wie Younger aussah. »Nun, davon können Sie mir ja morgen erzählen.«
»Morgen – gut.« Younger wandte sich zum Gehen.
Als er Youngers Enttäuschung bemerkte, fügte Freud hinzu: »Ach, was ich Ihnen noch sagen wollte. Clara Banwell – wir müssen auch an sie denken.«
»Sir?«
»Das Leben einer Familie ist immer um die Person mit den größten Verletzungen strukturiert. Wir wissen, dass Nora ihre Eltern im Grunde durch die Banwells ersetzt hat. Somit stellt sich die Frage, welche Person in dieser Konstellation die größten psychologischen Wunden erlitten hat.«
»Und Sie meinen, das könnte Mrs. Banwell sein?«
»Wir dürfen jedenfalls nicht unbedingt davon ausgehen, dass es Nora ist. Mrs. Banwell ist eine zwingende Gestalt, wie dies bei narzisstischen Menschen häufig der Fall ist, aber sie ist ohne Zweifel von den Männern in ihrem Leben sehr schlecht behandelt worden. Von ihrem Mann mit Sicherheit. Sie haben ja gehört, was sie gesagt hat.«
»Ja«, erwiderte Younger, »sie hat mir noch mehr darüber erzählt.«
»Bei Jelliffe?«
»Nein, Sir. Ich habe bei Miss Acton mit ihr gesprochen.«
»Ich verstehe.« Freud zog eine Augenbraue hoch. »Wahrscheinlich dürfte Nora von ihr erfahren haben, dass sich damals zwischen ihr und Noras Vater eine Fellatio abgespielt hat.«
»Pardon?«
»Sie werden sich doch sicher noch erinnern.« Freud schloss die Augen und gab, ohne sie zu öffnen, die Unterhaltung wieder, die er und Younger vor zwei Tagen über dieses Thema geführt hatten. Er begann mit seinen eigenen Worten: »›Nora behauptet, dass sie damals nicht verstanden hat, was zwischen Mrs. Banwell und ihrem Vater vorgegangen ist. Finden Sie das nicht seltsam?‹ – ›Die meisten amerikanischen Mädchen sind mit vierzehn Jahren diesbezüglich ziemlich schlecht informiert, Dr. Freud.‹ – ›Das leuchtet mir durchaus ein. Aber das habe ich nicht gemeint. Ihre Bemerkung lässt sich nämlich auch so auslegen, dass sie inzwischen sehr wohl versteht, was sie damals beobachtet hat.‹«
Younger starrte ihn an. »Sie haben ein phonographisches Gedächtnis, Sir?«
»Ja. Eine sehr nützliche Gabe für einen Psychoanalytiker. Sollten Sie auch kultivieren. Früher konnte ich mich monatelang an Gespräche erinnern, jetzt sind es nur noch Tage. Wie auch immer, ich denke, Sie werden feststellen, dass es Mrs. Banwell selbst war, die Nora über die Art dieses Verkehrs aufgeklärt hat. Vermutlich hat sie Nora ins Vertrauen gezogen, um ihr Mitgefühl zu wecken. Andernfalls sind Noras Gefühle für sie unerklärlich.«
»Noras Gefühle für Mrs. Banwell«,
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