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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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hatte zwei feuchte Streifen auf dem Boden hinterlassen, und diese Streifen waren gesprenkelt mit dunkel glänzendem rötlichem Lehm.
    »Hey, Sie da!«, rief Littlemore.
    Der Mann erstarrte mit dem Rücken zu Littlemore, die Schultern nach vorn gebeugt. Im nächsten Augenblick rannte er los und verschwand, immer noch mit dem Korb in der Hand, um eine Ecke. Sofort setzte ihm der Detective nach und erreichte dieselbe Stelle gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mann am Ende eines langen Korridors eine Schwingtür aufdrückte. Littlemore rannte durch den Korridor, passierte die Schwingtür – und starrte auf die lärmenden Wäschereikatakomben des Balmoral, wo unzählige Männer an Bügelbrettern, Waschbrettern, Dampfpressen und handbetriebenen Waschmaschinen arbeiteten. Es gab Schwarze und Weiße, Italiener und Iren, Gesichter aller Art – aber keine Chinesen. Neben einem Bügelbrett lag ein leerer Weidenkorb auf der Seite und wackelte noch leicht, ganz als wäre er gerade abgesetzt worden. Der Boden war überall nass und verdeckte alle Spuren. Littlemore schob den Rand seines Strohhuts zurück und schüttelte den Kopf.

     
    Der Gramercy Park am Fuß der Lexington Avenue war der einzige Privatpark Manhattans. Nur die Besitzer der Häuser gegenüber dem fein ziselierten schmiedeeisernen Zaun der Anlage durften ihn betreten. Jedes Haus verfügte über einen Schlüssel zu den Parktoren, durch die man Zugang zu einem kleinen Paradies aus Blumen und Bäumen erhielt.
    Für die junge Frau, die am frühen Abend des 30. August aus einem dieser Häuser kam, war dieser Schlüssel von jeher ein magischer Gegenstand gewesen, golden und schwarz, zart, aber unzerbrechlich. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte ihr Mrs. Biggs, die Dienerin, immer den Schlüssel gegeben, und sie durfte ihn auf dem Weg über die Straße in ihrer winzigen Handtasche tragen. Sie war noch zu klein, um den Schlüssel selbst im Schloss zu drehen, und Mrs. Biggs führte ihre Hand, um ihr zu helfen. Wenn das Eisentor aufging, war es, als würde sich vor ihren Augen die ganze Welt öffnen.
    Je älter sie wurde, desto mehr war der Park geschrumpft. Jetzt, mit siebzehn, konnte sie natürlich ohne Hilfe aufschließen – und das tat sie an diesem Abend. Sie schob das Tor auf und ging langsam zu der Bank, auf der sie immer saß. Sie trug mehrere Lehrbücher und ihr eigenes Exemplar von Das Haus der Freude auf dem Arm. Ihre Bank liebte sie noch immer, auch wenn der Park inzwischen eher ein Anhängsel des Elternhauses war und nicht mehr das Refugium früherer Zeiten. Ihre Eltern waren nicht zu Hause. Vor fünf Wochen waren sie aufs Land gefahren und hatten ihre Tochter der Obhut von Mrs. Biggs und deren Mann überlassen. Sie war froh gewesen, als sie abreisten.
    Der Tag war noch immer drückend heiß, doch ihre Bank stand im kühlen Schatten eines Weiden- und Kastanienbaldachins. Die Bücher lagen unberührt neben ihr. Übermorgen begann der September, ein Monat, dem sie schon seit Ewigkeiten entgegenfieberte. Denn nächstes Wochenende war ihr achtzehnter Geburtstag. Drei Wochen danach würde sie sich am Barnard College einschreiben. Sie gehörte zu jenen Mädchen, die sich trotz einer starken Sehnsucht nach einem anderen Leben lange dagegen wehren, zur Frau zu werden. Mit dreizehn, vierzehn und selbst noch mit fünfzehn hatte sie sich an ihre Stofftiere geklammert, während ihre Schulfreundinnen bereits aufgeregt über Strümpfe, Lippenstift und Einladungen redeten. Als sie sechzehn war, waren die Stofftiere schließlich in die oberen Regionen eines Wandschranks verbannt worden. Mit siebzehn war sie gertenschlank, blauäugig und atemberaubend schön. Sie trug ihr langes blondes Haar mit einem Band nach hinten gebunden.
    Als die Glocken der Calvary Church sechs schlugen, sah das Mädchen, wie Mr. und Mrs. Biggs die Eingangsstufen hinunterhasteten, um noch vor Ladenschluss zu den Geschäften zu kommen. Sie winkten ihr zu, und sie winkte zurück. Einige Minuten später machte sie sich mit Tränen in den Augen langsam auf den Heimweg. Sie drückte die Lehrbücher an die Brust und ließ noch einen letzten Blick über das Gras, den Klee und die summenden Bienen gleiten. Hätte sie sich nach links gewandt, wäre ihr vielleicht am anderen Ende des Parks ein Mann aufgefallen, der sie von außen durch den schmiedeeisernen Zaun betrachtete.
    Dieser Mann beobachtete sie schon längere Zeit. Er trug einen schwarzen Koffer in der Hand und war schwarz gekleidet

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