Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
Vom Netzwerk:
Kronleuchter, dessen Kristalltropfen leicht vibrierten – vielleicht wegen der Untergrundbahnen, die tief unter uns durch ihre Röhren donnerten.
    Miss Acton trug ein schlichtes weißes Kleid mit blauer Bordüre. Sie hatte keinen Schmuck angelegt. Direkt über dem zarten Schlüsselbein war ein Schal um ihren Hals geschlungen, der die Farbe des Himmels hatte. Angesichts der Sommerhitze gab es dafür nur eine Erklärung: Die Quetschungen an ihrer Kehle waren noch sichtbar, und sie wollte sie verbergen.
    Im Vergleich zum Vorabend war ihr Aussehen so verändert, dass ich Mühe hatte, sie überhaupt wiederzuerkennen. Ihr langes Haar, gestern völlig zerzaust, war zu einem vollkommen glatten und seidig glänzenden Zopf geflochten. Hatte sie gestern noch am ganzen Körper gezittert, war sie heute ein Bild der Anmut, mit ihrem erhobenen Kinn über dem ebenmäßigen Hals. Nur die Lippen waren noch leicht geschwollen von den Schlägen, die sie hatte erdulden müssen.
    Ich zog mehrere Notizbücher und eine reiche Auswahl an Füllern und Tinten aus meiner schwarzen Tasche. Sie waren nicht für mich bestimmt, sondern für Miss Acton, damit sie schriftlich mit mir kommunizieren konnte. Freuds Rat folgend, machte ich mir während einer Analysesitzung nie Notizen, vielmehr zeichnete ich die Unterhaltung hinterher aus dem Gedächtnis auf.
    »Guten Morgen, Miss Acton«, begann ich. »Die sind für sie.«
    »Danke«, antwortete sie. »Welche soll ich nehmen?«
    »Was Ihnen lieber …« Ich brach ab, nachdem ich begriffen hatte. »Sie können sprechen.«
    »Mrs. Biggs, würden Sie dem Doktor eine Tasse Tee einschenken?«
    Ich lehnte das Angebot ab. Zu dem Verdruss darüber, derart überrumpelt worden zu sein, kam die unangenehme Erkenntnis, dass ich ein Arzt war, der es seiner Patientin verübelte, dass sich ihr Zustand ohne sein Zutun verbessert hatte. »Haben Sie auch Ihr Gedächtnis wiedererlangt?«
    »Nein. Aber Ihr Freund, der ältere Doktor, hat gesagt, dass es von ganz allein zurückkommen wird, oder?«
    »Dr. Freud hat gesagt, dass wahrscheinlich Ihre Stimme von allein zurückkommt, Miss Acton, nicht Ihr Gedächtnis.« Es war merkwürdig, dass ich das sagte, da ich mir meiner Sache überhaupt nicht sicher war.
    »Ich hasse Shakespeare«, war ihre Antwort.
    Sie nahm den Blick nicht von meinem, aber ich entdeckte rasch, was sie zu dieser scheinbar unmotivierten Bemerkung veranlasst hatte. Mein Exemplar von Hamlet lugte aus dem Stapel Notizbücher, den ich ihr angeboten hatte. Ich nahm das Theaterstück an mich und steckte es zurück in die Tasche. Ich war versucht, sie zu fragen, was sie gegen Shakespeare hatte, überlegte es mir aber anders. »Wollen wir jetzt mit Ihrer Behandlung anfangen, Miss Acton?«
    Seufzend wie eine Patientin, die schon viel zu oft von Ärzten behelligt worden ist, kehrte sie mir den Rücken zu und schaute zum Fenster hinaus. Anscheinend dachte sie, dass ich gleich mein Stethoskop zücken oder vielleicht ihre Verletzungen untersuchen wollte. Ich gab ihr zu verstehen, dass wir nur miteinander reden würden.
    Sie tauschte skeptische Blicke mit Mrs. Biggs aus. »Was für eine Art von Behandlung soll das sein, Dr. Younger?«
    »Es heißt Psychoanalyse und ist ganz einfach. Ich muss allerdings Ihre Dienerin bitten, uns allein zu lassen. Dann, wenn Sie die Güte haben, sich hinzulegen, Miss Acton, werde ich Ihnen Fragen stellen. Sie antworten einfach, was Ihnen in den Sinn kommt. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Ihnen die Dinge, die Ihnen einfallen, belanglos, unpassend oder gar unhöflich erscheinen. Sagen Sie einfach, was Ihnen als Erstes durch den Kopf schießt, egal, was es ist.«
    Sie starrte mich an. »Sie machen Witze.«
    »Keineswegs.« Ich brauchte mehrere Minuten, um den Widerstand des Mädchens zu überwinden – und weitere Minuten, um mich gegen die fortgesetzten Beteuerungen ihrer Dienerin durchzusetzen, dass sie noch nie von so einer Sache gehört hatte. Doch endlich ließ sich Mrs. Biggs zum Verlassen des Zimmers überreden, und Miss Acton willigte ein, sich auf dem Sofa auszustrecken. Sie zupfte ihren Schal zurecht und strich ihr Kleid glatt. Es war ihr anzusehen, dass sie sich unbehaglich fühlte. Ich fragte sie, ob ihr die Verletzungen am Rücken Schmerzen bereiteten, doch sie verneinte. Ich nahm auf einem Stuhl außerhalb ihres Gesichtsfelds Platz und begann. »Können Sie mir erzählen, was Sie letzte Nacht geträumt haben?«
    »Wie bitte?«
    »Sie haben mich doch verstanden, Miss

Weitere Kostenlose Bücher