Morddeutung: Roman (German Edition)
abbringen. Dem Leser ist vielleicht nicht entgangen, dass der Dichter von Avon nicht in meiner Liste weltverändernder Genies erscheint. Auch als ich meinem Vater 1899 diese Liste vorstellte, erwähnte ich ihn nicht. Es war eine strategische Auslassung. Ich wollte, dass er mir auf den Leim ging. Es hätte ihm sicher Spaß gemacht, meinen »geliebten Shakespeare«, wie er immer sagte, gegen mich ins Feld zu führen. Er war viel zu schlau, um mit dem Finger auf Dickens oder Tolstoi zu zeigen. Er hatte gleich durchschaut, dass ich sie als Giganten der Jahrhundertmitte, als Meister bereits vorhandener Formen bezeichnen würde, die nichts Neues erfunden hatten. Aber ihm war natürlich auch klar, dass ich Shakespeare nie und nimmer den Titel eines revolutionären Genies vorenthalten konnte und dass man ihn somit als umgehende und vernichtende Widerlegung meiner Argumentation hätte heranziehen können.
Vielleicht roch mein Vater den Braten. Vielleicht kannte er sich in der Literaturgeschichte besser aus, als ich es erwartet hatte. Jedenfalls fragte er nicht nach, und so kam ich nicht dazu, ihm zu verkünden, dass Hamlet im Jahr 1600 entstanden war.
Und ich hatte auch keine Gelegenheit, ihn darauf hinzuweisen, dass ich schließlich nicht der einzige begeisterte Shakespeare-Liebhaber war. Es hat Zeiten gegeben, da Menschen für Hamlet den Tod auf sich nahmen. Mein Vater wusste es vielleicht nicht – fast alle hatten es vergessen -, doch selbst hier in den unkultivierten Vereinigten Staaten ist es einmal wegen Hamlet zu einem Aufruhr gekommen. Vor sechzig Jahren erst bereiste der berühmte amerikanische Schauspieler Edwin Forrest England, wo er den aristokratischen britischen Tragödiendarsteller William Macready in der Rolle des Prinzen von Dänemark sah. Forrest, der von kräftiger Statur war und aus ärmlichen Verhältnissen stammte, brachte wortreich seinen Abscheu zum Ausdruck. Nach seiner Auffassung tänzelte Hamlet in Macreadys Darstellung mit weibischen Trippelschritten über die Bühne, die an sich schon absurd und für den edlen Prinzen eine Beleidigung waren.
So begann ein öffentlicher und immer stärker eskalierender Streit zwischen diesen beiden gefeierten Mimen. Forrest wurde in England von der Bühne gejagt, und als Macready nach Amerika kam, wurde es ihm mit gleicher Münze zurückgezahlt. Aus dem Publikum wurden Eier von zweifelhafter Frische, alte Schuhe, Kupfermünzen und sogar Stühle in Richtung Rampe geschleudert. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung spielte sich am 7. Mai 1849 vor der alten Oper am Astor Place in Manhattan ab, als sich fünfzehntausend Angriffslustige versammelten, um eine Macready-Darbietung zu sprengen. Der unerfahrene Bürgermeister von New York, der erst seit einer Woche im Amt war, rief die Bürgerwehr, und schließlich wurde sogar Befehl gegeben, das Feuer auf die Menge zu eröffnen. Zwanzig oder dreißig Menschen fanden an diesem Abend den Tod.
Und das alles für nichts, hätte mein Vater gesagt: für Hamlet. Aber so ist es immer. Es sind nur selten die realen Dinge, die den Menschen am meisten am Herzen liegen. Die Medizin stand für mich für Realität. Nichts, was ich vor dem Medizinstudium tat, scheint mir heute real – es war alles nur Spiel. Deswegen müssen Väter sterben: damit die Welt für ihre Söhne real werden kann.
Und genauso ist es bei der Übertragung im Rahmen einer Psychoanalyse. Der Patient baut zum Arzt eine Bindung auf, die von großer Emotionalität geprägt ist. Eine Patientin wird um ihren Doktor weinen, sie wird sich ihm hingeben wollen, sie wird bereit sein, für ihn zu sterben. Aber es ist alles nur Einbildung, ein Trugbild. In Wirklichkeit haben ihre Gefühle nichts mit dem Arzt zu tun. Sie projiziert nur einen heftigen, im Verborgenen brodelnden Affekt auf ihn, der sich eigentlich auf eine andere Person richten müsste. Der gröbste Fehler, der einem Psychoanalytiker unterlaufen kann, ist, diese künstlichen Gefühle – ob nun der Hingabe oder des Hasses – für real zu halten. Entsprechend wappnete ich mich, als ich durch den Gang auf Miss Actons Zimmer zusteuerte.
KAPITEL SIEBEN
Die alte Frau öffnete mir die Tür zu Miss Actons Suite und rief: »Der junge Doktor ist da!«
Das Mädchen saß mit einem untergeschlagenen Bein auf einem Sofa am Fenster und las gerade in einem Mathematiklehrbuch. Sie blickte auf, ohne mich zu begrüßen, was nicht weiter verwunderlich war, da sie ja nicht sprechen konnte. Von der Decke hing ein
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