Morddeutung: Roman (German Edition)
Acton.«
»Ich sehe nicht ein, was meine Träume damit zu tun haben sollen.«
Ich versuchte eine Erklärung. »Unsere Träume setzen sich aus Bruchstücken der Erlebnisse vom Tage zusammen. Jeder Traum, der Ihnen einfällt, kann uns helfen, Ihr Gedächtnis wiederzuerlangen.«
»Und wenn ich nicht will?«
»Sie hatten einen Traum, den Sie lieber nicht schildern möchten?«
»Das hab ich nicht gesagt«, verbesserte sie mich. »Ich meinte: Wenn ich mich nicht erinnern will? Sie scheinen alle davon auszugehen, dass ich mich erinnern will.«
»Tatsächlich gehe ich davon aus, dass Sie sich nicht erinnern wollen. Wenn Sie sich erinnern wollten, würden Sie es auch tun.«
»Was soll das heißen?« Sie setzte sich auf und funkelte mich mit unverhohlener Feindseligkeit an. In der Regel bringen mir Leute, die ich erst seit Kurzem kenne, keinen Hass entgegen. Dieser Fall schien eine Ausnahme zu sein. »Wollen Sie damit behaupten, dass ich den Gedächtnisverlust nur vortäusche?«
»Es geht nicht ums Vortäuschen, Miss Acton. Manchmal wollen wir uns nicht an Ereignisse erinnern, weil sie zu schmerzlich sind. Also unterdrücken wir sie – vor allem Kindheitserinnerungen.«
»Ich bin kein Kind mehr.«
»Das weiß ich. Ich wollte damit sagen, dass Sie vielleicht Erinnerungen, die viele Jahre zurückliegen, aus Ihrem Bewusstsein ausgesperrt haben.«
»Was soll dieses Gerede? Ich bin doch erst gestern angegriffen worden, nicht vor vielen Jahren.«
»Ja, und deswegen habe ich Sie nach Ihren Träumen von letzter Nacht gefragt.«
Sie musterte mich misstrauisch, doch mit einiger Überredungskunst konnte ich sie dazu bewegen, sich wieder hinzulegen. Den Blick zur Decke gerichtet, erkundigte sie sich: »Bitten Sie Ihre anderen Patientinnen auch, Ihnen ihre Träume zu erzählen?«
»Ja.«
»Das ist bestimmt unterhaltsam. Aber was ist, wenn ihre Träume furchtbar langweilig sind? Erfinden sie dann welche, die interessanter sind?«
»Bitte machen Sie sich darüber keine Gedanken.«
»Worüber?«
»Dass Ihre Träume langweilig sein könnten«, antwortete ich.
»Ich habe nichts geträumt. Sie schwärmen bestimmt für Ophelia.«
»Wie?«
»Wegen ihrer Fügsamkeit. Die Frauen bei Shakespeare sind alle dumm, aber am schlimmsten ist Ophelia.«
Das traf mich. Wahrscheinlich habe ich tatsächlich schon immer für Ophelia geschwärmt. Vermutlich habe ich sogar alles, was ich über Frauen weiß, von Shakespeare gelernt. Miss Acton hatte offenbar bewusst das Thema gewechselt. Zwar sollte man sich nie auf eine falsche Fährte locken lassen, aber bei einer Analyse kann es manchmal ganz nützlich sein, auf Ausflüchte einzugehen, weil sie häufig zum Kern der Sache zurückführen. Also fragte ich als Nächstes: »Was haben Sie gegen Ophelia einzuwenden?«
»Sie bringt sich um, weil ihr Vater gestorben ist – ihr blöder, unnützer Vater. Würden Sie sich umbringen, wenn Ihr Vater sterben würde?«
»Mein Vater ist bereits tot.«
Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie.«
»Und ich habe mich umgebracht«, fügte ich hinzu. »Ich weiß nicht, was daran so ungewöhnlich sein soll.«
Sie lächelte.
»Wenn Sie an die gestrigen Ereignisse denken, Miss Acton, was fällt Ihnen da ein?«
»Nichts fällt mir ein«, erwiderte sie. »Ich glaube, das ist die Bedeutung von Amnesie.«
Der Widerstand des Mädchens überraschte mich nicht. Freud hatte mir als einzigen Rat mitgegeben, mich nicht abschrecken zu lassen. Bei hysterischem Gedächtnisverlust drängt ein zutiefst verborgenes, längst vergessenes, von einem neueren Vorfall wiedererwecktes Erlebnis aus der Vergangenheit der Patientin zurück in ihr Bewusstsein, das sich mit all seinen Kräften zur Wehr setzt, um die unzulässige Erinnerung fernzuhalten. Die Psychoanalyse kämpft an der Seite des Gedächtnisses gegen die Kräfte der Verdrängung. Aus diesem Grund löst sie unmittelbar feindselige Reaktionen aus, die mitunter von großer Heftigkeit sein können.
»Dass jemand gar nichts im Kopf hat, kommt nie vor«, bemerkte ich. »Was geht gerade in Ihrem vor?«
»Jetzt im Augenblick?«
»Ja, denken Sie nicht lange nach, sprechen Sie es einfach aus.«
»Also gut. Ihr Vater ist nicht gestorben. Er hat Selbstmord begangen.«
Es entstand eine kurze Pause. »Woher wissen Sie das?«
»Von Clara Banwell.«
»Wer ist das?«
»George Banwells Frau. Kennen Sie Mr. Banwell?«
»Nein.«
»Er ist ein Freund meines Vaters. Clara hat mich letztes Jahr zum Reitturnier
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