Mordkommission
lebensgefährlich Verletzte wurde
gerade von einer Notarztbesatzung versorgt; das Messer steckte nach wie vor im Auge des Opfers.
Mich schauderte bei dem Gedanken an das, was das Opfer wohl gerade fühlen und erleiden musste. Meine Müdigkeit war verflogen,
noch ehe die Kollegin ihren Bericht beendet hatte. Beiläufig registrierte ich das Gurgeln der Kaffeemaschine aus der Küche
– meine Frau! –, als ich mich daranmachte, meine beiden Kollegen zu wecken. Ich hatte alles Verständnis dieser Welt für die lange Zeitspanne,
die es dauerte, ehe sie sich am Telefon meldeten. Einen der beiden bestellte ich direkt zum Tatort, zu dem auch ich in Kürze
aufbrechen würde. Den zweiten Kollegen bat ich, die Klinik zu ermitteln und zu versuchen, von dem Verletzten noch vor einer
Operation Hinweise auf die Täter zu erlangen.
Knapp dreißig Minuten später erreichte ich den Tatort. Der Bahnhofsvorplatz ist sehr belebt, entsprechend groß war die Zahl
der Schaulustigen, die sich vor den rot-weißen Absperrbändern versammelt hatten. Der Verletzte war mittlerweile in eine Spezialklinik
gebracht worden, wo sich Ärzte darum bemühten, sein Augenlicht zu retten.
Wie mir der Außendienstleiter, der die Erstzugriffsmaßnahmen koordinierte, mitteilte, saß der Geschädigte auf den Stufen vor
einer Bank, als er scheinbar völlig grundlos und überraschend von zwei jungen Vietnamesen angegriffen und verletzt wurde.
Die Angreifer rannten sofort nach der Attacke in Richtung eines U-Bahn -Abganges davon, im Treppenbereich gab es Blutspuren. Keiner der zahlreichen Augenzeugen wagte es, sich den Tätern in den
Weg zu stellen, sodass diese unbehelligt flüchten konnten. Die Personalien mehrerer Augenzeugen waren aufgenommen worden;
allerdings waren von diesen Zeugen bei unserem Eintreffen nur noch zwei anwesend.
Das Team des Erkennungsdienstes maß den Tatort aus und fotografierte. Dann sicherten sie die mutmaßlichen Blutantragungen
am Abgang zur U-Bahn . Spurentechnisch gab der Tatort ansonsten nicht viel her, da die Täter laut |186| Zeugenaussagen nichts berührt hatten und nichts zurückgeblieben war, was ihnen hätte zugeordnet werden können. Unsere Hoffnung
setzten wir daher neben der Vernehmung des Geschädigten vor allem auf die Kameraüberwachung des Bahnhofsvorplatzes, die nach
langen öffentlichen Diskussionen seit etwa eineinhalb Jahren hier erfolgte. Nicht ohne Stolz konnte die Münchner Polizei bereits
ein Jahr nach der Inbetriebnahme ihrer insgesamt drei Überwachungskameras, von denen – wie man in allen Münchner Zeitungen
nachlesen konnte – zwei am Bahnhofsvorplatz installiert waren, vermelden, dass die Zahl der Straftaten in den überwachten
Bereichen um rund ein Drittel zurückgegangen war.
Unsere Enttäuschung war daher groß, als wir feststellen mussten, dass ausgerechnet die tat- und fluchtrelevanten Bereiche
nicht von den beiden Kameras erfasst waren. Was hätte wohl ein englischer Kollege dazu gesagt, der in seiner Heimatstadt London
mehr als dreihunderttausend Überwachungskameras auf öffentlichen Straßen und Plätzen zur Verfügung hat? Die nächste Ernüchterung
folgte auf dem Fuß: Die vielversprechenden Blutspuren auf der Treppe zur U-Bahn erwiesen sich als nicht tatrelevant. Sie stammten von einem Passanten, der wenige Stunden vor dem Messerangriff auf der Treppe
gestürzt war und sich dabei eine stark blutende Kopfplatzwunde zugezogen hatte. Damit war die Hoffnung auf ein schnelles DN A-Muster des Messerstechers, der sich bei der Tat womöglich verletzt hatte, zunichte.
In der Zwischenzeit liefen die üblichen Fahndungsmaßnahmen auf Hochtouren. Im Rundfunk wurde stündlich die Beschreibung der
Täter wiederholt, in U- und S-Bahnhöfen ließen wir über die Info-Screens Fahndungsaufrufe senden. Über die Funkkanäle des Verkehrsverbundes wurden alle Bus-, Straßenbahn-,
U- und S-Bahnfahrer , deren Fahrtstrecken den Bereich des Hauptbahnhofes tangierten, veranlasst, in ihren Bussen und Zügen nach verräterischen
Blutspuren zu suchen. Doch nirgendwo wurde etwas festgestellt.
|187| Einige Zeit später meldete sich der Kollege aus dem Krankenhaus, er hatte mit dem Verletzten kurz gesprochen. Hier zeichnete
sich ein Hoffnungsschimmer ab, der Verletzte hatte trotz allem unglaubliches Glück gehabt. Das Messer war oberhalb des Augapfels
in die Augenhöhle eingedrungen, ohne dabei wichtige Gefäße oder Nerven zu verletzen. Der Geschädigte, ein
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