Mordkommission
sei, reagierte er ein wenig verlegen. Wortlos schob er die Tür ein wenig weiter auf und gab den Blick auf
ein Mädchen frei, das auf einem Schlafsofa saß und eine Decke bis zum Kinn hochgezogen hatte. Was immer das Mädchen vor unseren
Blicken versteckte, es war mit Sicherheit kein gesuchter Straftäter.
Ich erkundigte mich nach dem vietnamesischen Mitbewohner und erfuhr zu meiner Enttäuschung, dass der vor etwa zwei Stunden
aus dem Haus gegangen war. Nacheinander hatte er mehrere Taschen, Koffer und einen vollgepackten Rucksack vor das Haus geschleppt,
vor dem kurze Zeit später ein Taxi hielt. Der blasse Junge vor mir hatte den Eindruck gewonnen, dass der Vietnamese auszog.
Ich bedankte mich, wünschte weiterhin eine gute Nacht und begab mich ins ausgebaute Dachgeschoss zum Zimmer des Vietnamesen.
Die Tür war unversperrt und zu dritt betraten wir gleich darauf den Raum. Hier hielt sich niemand mehr auf, es gab so gut
wie keine persönlichen Gegenstände mehr darin. Lediglich etwas schmutzige Bettwäsche und einige Kleidungsstücke lagen auf
dem Boden herum. Kein einziges Stück Papier, das einen Rückschluss auf den Bewohner zugelassen hätte. Dennoch bestand aufgrund
der Angaben des Mitbewohners kein vernünftiger Zweifel mehr daran, dass wir tatsächlich dem richtigen Vietnamesen auf der
Spur waren und dieser uns knapp entkommen war.
Telefonisch veranlasste ich die Fahndung nach dem Taxi, das den Vietnamesen abgeholt hatte. Nachdem wir alle davon ausgingen,
dass sich der vermutlich relativ mittellose Gesuchte am ehesten mit der Bahn absetzen würde, und ein |190| IC E-Bahnhof in der Nähe war, bat ich über die Einsatzzentrale darum, die Taxifahrer an diesem Bahnhof durch eine Streife befragen zu
lassen. Bereits der zweite Fahrer war der Gesuchte und konnte uns Auskunft geben. Sein Fahrgast hatte während der relativ
kurzen Fahrt davon gesprochen, dass er in einer bestimmten Stadt seinen Bruder besuchen wolle.
Mit Unterstützung von Beamten der Bahnpolizei ermittelten wir den einzigen in Frage kommenden Zug, der nachts hier Halt gemacht
hatte, und organisierten eine Überprüfung des Zuges. Die würden vermutlich in den frühen Morgenstunden hessische Bahnpolizeibeamte
durchführen. Mittlerweile hatten Kollegen auch die Personalien des mutmaßlichen Mittäters ermitteln können. Der war in einem
Asylbewerberheim in der Nähe gemeldet. Mit zwei weiteren Streifen als Unterstützung machte sich unser kleiner Tross auf den
Weg. Trotz der nächtlichen Stunde trafen wir dort auf mehrere afrikanische Asylbewerber, die in einer Gemeinschaftsküche versammelt
waren und ein lecker duftendes Gericht zubereiteten. Leider konnte ich nicht nach dem Rezept fragen, da sich unsere jeweiligen
Muttersprachen als nicht kompatibel erwiesen.
Schließlich stöberten wir den Mitarbeiter einer Bewachungsfirma auf, der nachts für Ruhe und Ordnung in der Unterkunft sorgte.
Über ihn konnten wir ermitteln, dass der gesuchte Mittäter vor drei Monaten aus dem Heim verschwunden war, in dem er eigentlich
während der Dauer seines Asylverfahrens wohnen musste. Über seinen neuen Aufenthaltsort war nichts bekannt. Diesem Problem
begegnen wir häufig. Personen melden sich in einer Unterkunft an, ohne sie tatsächlich zu beziehen. Entweder kommen sie bei
Verwandten oder Freunden unter oder sie verlassen die Stadt oder das Bundesland, um woanders ihr Glück zu suchen oder in Einzelfällen
auch, um zwielichtigen Geschäften nachzugehen oder sich einer Strafverfolgung zu entziehen. Immerhin hatten wir nun die Personalien
der beiden Tatverdächtigen, sodass wir am Vormittag einen Haftbefehl für die beiden beantragen konnten. Anschließend würden |191| wir die Kollegen der Zielfahndung darum ersuchen, die Fahndung nach den beiden Flüchtigen zu übernehmen.
Die Durchsuchung des Zuges war ergebnislos verlaufen. Offensichtlich hatte der Flüchtige den Zug bei nächster Gelegenheit
wieder verlassen; er hatte wohl geargwöhnt, dass ihm die Polizei schnell auf die Schliche kommen würde. Nun gut. Früher oder
später würden wir ihn dennoch zu fassen bekommen, daran gab es keinen Zweifel.
In der Dienststelle stellten wir den Vorgang zusammen und ordneten alle Unterlagen, Vernehmungen, Erstzugriffsberichte und
Vermerke chronologisch. Sodann erhielt die Staatsanwaltschaft die Unterlagen, um prüfen zu können, ob die Voraussetzungen
für die Beantragung von Haftbefehlen gegen die
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