Mordlast
Ärger, dem Engbers vor ein paar Minuten freien Lauf gelassen hatte.
Das Gefühl überwältigte ihn.
Davídsson erkannte die Ohnmacht, die damit verbunden war. Er konnte nichts mehr ändern.
Es war zu spät.
Er ballte die Faust und schlug ein paarmal halbherzig auf die Fensterbank aus Granit. Der Schmerz überlagerte für einen winzigen Augenblick das Gefühl von Wut und Verachtung für die schlampige Arbeit seiner Kollegen in Uniform.
Er war in Engbers Büro gegangen, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen, nachdem dieser wutentbrannt aus dem Zellentrakt verschwunden war. Bisher hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihm darüber zu sprechen.
Jetzt beobachtete er, wie ein alter Rover auf der anderen Straßenseite eingeparkt wurde. Im Rückfenster baumelte eine gehäkelte Puppe. Er erkannte das kistenförmige Modell nicht, aber es musste beinahe so alt sein wie der Fahrer selbst, der in diesem Moment mit einer erstaunlichen Beweglichkeit aus dem Wagen stieg.
Der Mann hatte einen Schlapphut auf und überzeugte sich davon, dass er den richtigen Abstand zum Bordstein gefunden hatte, bevor er die Fahrertür zuschlug. Die rote Puppe beruhigte sich langsam nach der Erschütterung, bis sie schließlich leblos über dem bräunlichen Velours hing, mit dem die Rücksitzbank bezogen war. Der alte Mann hatte solange neben dem Fenster gewartet.
»Es wird eine Untersuchung geben.« Engbers kam in sein Büro zurück.
Es roch nach Nikotin, als er sich neben Davídsson an das Fenster stellte.
Der Mann mit dem Schlapphut steuerte auf sie zu.
»Du weißt selbst, dass sie davon nicht mehr lebendig wird.« Davídssons Puls hatte sich normalisiert, auch wenn er sich immer noch ärgerte.
Engbers nickte. Davídsson sah die Bewegung aus den Augenwinkeln. Er beobachtete den Mann, der jetzt über eine Baustellenbrücke direkt zu dem Gebäude lief, in dem sie sich befanden.
Der will zu uns, dachte Ólafur Davídsson, als er ihn nicht mehr sehen konnte.
Keine zwei Minuten später klingelte Engbers Telefon und weitere fünf Minuten später saß der Mann aus dem Rover an dem kleinen Tisch in Engbers Büro. Er war völlig außer Atem. Es dauerte eine Weile, bis er genug Luft hatte, um mit Engbers zu sprechen, der in der Zwischenzeit hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.
»Mein Name ist Franz Schrauder. Meine Exfrau hat mich angerufen. Die alte Hexe hat nicht vor, zu kommen. Sie hat mich geschickt.«
»Es tut mir leid ...« Engbers versuchte, seine Überraschung zu verbergen.
»Sparen Sie sich das. Iris hatte eine Schraube locker.« Er wirbelte mit dem Zeigefinger vor seiner rechten Schläfe herum. »Ich habe sie nie gemocht. Meine andere Tochter, Evelyn, die war normal. Da habe ich getrauert. Iris war krank und jetzt ist sie tot. Ich bin nur gekommen, damit die alte Hexe mich in Ruhe lässt.«
»Was wollen Sie dann hier?«, unterbrach Davídsson das lange Schweigen, während dessen der Mann hörbar nach Luft gerungen hatte.
»Ich dachte, das ist klar«, sagte der alte Mann. »Ist der neu hier?« Er sah Engbers fragend an.
»Er ist noch in der Ausbildung.« Engbers blieb dabei völlig ernst. Er wusste selbst nicht, was der Mann mit dem Schlapphut von ihm erwartete.
»Es ist doch klar, dass ich die Sachen von ihr abholen muss, um sie der alten Hexe zu bringen, oder?« Er sah Davídsson mit schulmeisterlichem Blick an.
»Die Sachen sind noch nicht freigegeben. Es wird eine Untersuchung geben.« Engbers stand auf, um Schrauder klarzumachen, dass er jetzt wieder gehen sollte.
»Wie lange wird das dauern?« Der Mann rührte sich nicht vom Fleck.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
Schrauder sagte etwas zu sich selbst, das man nicht verstehen konnte.
»Was haben Sie gesagt?« Engbers war zur Tür gegangen.
»Die Hexe wird mich nicht in Ruhe lassen, bis ich die Sachen habe«, wiederholte er, als würde er einen Anrufbeantworter besprechen.
»Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?« Davídsson hatte sich vor die offene Tür gestellt. Der Mann war in Engbers Büro eingeschlossen.
»Sie müssen noch viel lernen. Vor allem das Zuhören. Ich habe doch gesagt, dass ich meine Tochter nicht mochte.«
»Wann?«
Engbers schloss die Tür und setzte sich wieder.
Der Mann nahm seinen Hut vom Kopf und zerknautschte ihn in seinen Händen.
»Letzte Woche.«
»Wann? Wieso? Wo?«
»Ich brauchte Geld. Ich hatte die Zeitungsartikel gelesen und dachte, sie hat dafür Geld bekommen. Ich bin zu
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