Mordloch
schwieg noch einen Moment und versuchte, seine Aufregung zu verbergen. Ruckartig nahm er den Halogenstrahl seiner Taschenlampe von der Wasseroberfläche, drehte sich um und leuchtete in Richtung Ausgang zurück. »Geh’n wir«, sagte er knapp. Die Jungen lösten ihren Klammergriff von der Hose des Vaters und begannen zu rennen.
»Da ist eine Leiche«, rief der Älteste. Seine helle Stimme hallte durch den schmalen Höhlengang, in den diffus das Licht von draußen hereindrang. Der jüngere Bub rannte seinem Bruder hinterher, drohte zu stolpern, stützte sich an der Felswand ab. Jetzt begann auch der Vater seine Schritte zu beschleunigen und wies mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe seinen Kindern den Weg.
»Da liegt eine Leiche«, hörte er seinen Ältesten immer wieder schreien. Dieser hatte bereits den Ausgang erreicht, stapfte so schnell es ging durch das steinige Bachbett, gefolgt von seinem noch etwas ungelenkigeren jüngeren Bruder. Als der Vater aus dem Höhlenschlund stolperte, kreidebleich noch immer die brennende Taschenlampe in der Hand, eilten ihm bereits mehrere Personen entgegen, aufgeschreckt durch das Geschrei des Buben. Der Familienvater blieb stehen und schaute in die gespannten Gesichter. »Es stimmt«, sagte er und atmete schwer, »da drin liegt ein Toter im Wasser.«
Die Neugier schlug augenblicklich in lähmendes Entsetzen um. Es schien so, als suche jeder die passenden Worte. Der Familienvater knipste seine Lampe aus und durchbrach das Schweigen: »Hat jemand ein Handy dabei? Wir müssen die Polizei verständigen.«
Der Zug strebte jetzt ruckelnd seiner Endstation entgegen. Auf dem nahezu ebenen Abschnitt hinüber nach Gerstetten nahm die Geschwindigkeit zu. Rund 40 km/h waren’s jetzt. Das weiße Qualmband, das über die Waggons strich, blieb ein, zwei Minuten in der stillen Sommerluft stehen, ehe es sich spurlos auflöste.
In einem der Waggons, die noch immer voll besetzt waren, lehnte sich ein kräftiger Mann selbstgefällig auf der Holzbank zurück und verschränkte die muskulösen Oberarme, die ein kurzärmliges Freizeithemd zu sprengen drohten. Er lächelte seiner Frau zu, die ihm gegenüber saß. »Na, macht’s wieder Spaß?«
Sie streichelte ihm über ein Knie. »War eine gute Idee«, lobte sie, »danke.«
»Spitze, einfach geil«, bekräftigte der 14-jährige Sohn, der neben seiner Mutter Platz genommen hatte. Vor dem linken Fenster zog die Zufahrt zum Holzschnitzelwerk vorbei. Bald würde der Stadtrand von Gerstetten erreicht sein.
»Eine tolle Überraschung«, meinte die Frau, die diese spontanen Sonntagsausflüge genoss. Die Woche über hatten sie beide viel zu wenig Zeit, um an gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen oder Veranstaltungen besuchen zu können. Manchmal hatte sie den Eindruck, ihr Handwerksbetrieb würde sie eines Tages auffressen. Der Konkurrenzdruck wurde von Jahr zu Jahr schärfer und gnadenloser. Diese Dampfzugfahrten stellten jedes Mal eine willkommene Abwechslung dar. Weil nicht nur ihr Mann und sie begeisterte Eisenbahnfans waren, sondern auch der Sohn seinen Spaß daran hatte, ließen sie so gut wie keine Gelegenheit aus, diese Museumsfahrten zu genießen. Und davon gab es in den Sommermonaten landauf, landab viele. Eine ältere Dame, die neben dem Handwerksmeister saß, meinte: »Schön, dass auch die jungen Leute Spaß an dieser alten Technik haben. Ich kann mich noch lebhaft entsinnen, wie froh wir damals in den 50-er Jahren waren, diese Verbindung nach Amstetten gehabt zu haben.«
»Ja, schade, dass dies so schnell in Vergessenheit gerät«, bekräftigte der Handwerker. Der 14-Jährige blickte aus dem Fenster und tat so, als ob ihn das alles gar nichts anginge. Früher, ja, er kannte das ewige nostalgische Geschwätz der Alten zur Genüge, da war alles besser. Er wippte mit den Füßen, als gebe er sich in Gedanken irgendeinem Discosound aus den aktuellen Charts hin.
»Dann kommen Sie öfters hierher?« fragte die Dame, in deren Gesicht Wind und Wetter und gewiss auch manche Sorge tiefe Spuren hinterlassen hatten.
»Immer wenn’s dampft«, grinste der Mann und schaute seiner Nebensitzerin ins Gesicht.
»Dann waren Sie vor vier Wochen zuletzt hier?« fragte sie nach. Er glaubte, gewisse Zweifel in ihrer Stimme gehört zu haben. Sein Lächeln erfror. Er warf seiner Frau einen Blick zu und stellte zufrieden fest, dass sie die vorbeiziehende Landschaft auf sich wirken ließ. Sein Sohn klopfte einen imaginären Takt.
»Vor vier Wochen,
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