Mordloch
Nacht war nahezu von der warmen Luft aufgesogen worden. Im Roggental hatten sich die Morgennebel schnell verflüchtigt, sodass die Julisonne jetzt, gegen zwölf Uhr mittags, bereits gnadenlos in den tiefen Einschnitt scheinen konnte. Längst waren die ersten Kinder mit Ponys von der ›Oberen Roggenmühle‹ losgezogen und dem Waldweg talaufwärts gefolgt. Diese Höhle, die nur wenige hundert Meter von der Ausflugsgaststätte entfernt als schaurig schwarzes Loch geheimnisvoll in den Steilhang hinein führte, war ein beliebtes Ausflugsziel. Um sie rankte sich eine Sage, wonach im Mittelalter dort ein schreckliches Verbrechen geschehen sein sollte: Ein Wilddieb habe den Förster der nahen Burg Ravenstein erschossen und die Leiche in der Höhle versteckt. Seitdem hieß sie »Mordloch«, was nicht nur Kindern beim Vorübergehen regelmäßig einen Schauer über den Rücken jagte. Trotzdem war es für viele ein besonderes Abenteuer, sich mit Taschenlampen ein Stück weit in diese Höhle vorzuwagen, von der viereinhalb Kilometer vermessen waren, wie es auf einer Hinweistafel zu lesen stand.
Nicht selten gaben Familienväter gerne dem Entdeckungsdrang ihrer Sprösslinge nach, um auf diese Weise selbst ein bisschen Abenteuerlust zu verspüren. Auch an diesem Sonntag hatte ein Mann seinen beiden Buben, acht und zehn Jahre alt, einen kurzen Vorstoß in dieses unheimliche Loch versprochen. Die Mutter sicherte sich derweil ein Plätzchen an der großen Feuerstelle, an der bereits andere Ausflügler eine kräftige Glut zuwege gebracht hatten und ihre Würste drüber hielten. Der Geruch von Gegrilltem und Rauch hing in der Luft.
Vater und Söhne stiegen in das ausgetrocknete und steinige Bachbett, das in leichtem Bogen zu einem Hangeinschnitt führte und dort im Schlund der Höhle verschwand. Die beiden Buben konnten es kaum erwarten, in das Schwarz des Berges einzudringen. Bevor es so weit war, knipste ihr Vater am Eingang eine lange Stabtaschenlampe an, deren halogenes Licht auf kantige Felswände fiel. Trotz des hellen Strahls dauerte es einige Sekunden, bis sie den weiteren Verlauf des schmaler werdenden Ganges erkennen konnten. Ihre Augen mussten sich zunächst an die Dunkelheit gewöhnen. Der Mann deutete seinen Sprösslingen an, dicht hinter ihm zu bleiben und auf hervorstehende Steine zu achten. Irgendwo in der Tiefe der Höhle fielen Tropfen in ein stehendes Gewässer.
Der Mann staunte, wie trocken der Höhlengang heute war. Erst als es um eine Biegung ging, spiegelte sich im Lichtstrahl der Taschenlampe die erste Feuchtigkeit. »Viel weiter geht’s nicht«, erklärte er seinen Buben, die ehrfurchtsvoll und leicht verängstigt die Felswände und die sich senkende Decke beobachteten. Obwohl die Schuhe im steinigen Untergrund bereits leicht einsanken, machte der Mann noch ein paar Schritte nach vorne. Dann jedoch tat sich vor ihm die glasklare und spiegelglatte Wasserfläche auf, in die der nun abwärts führende Gang langsam eintauchte. Der Vater blieb stehen. »Man nennt das ›Syphon‹. Nur Taucher kommen hier durch«, erklärte er seinen Buben, die schweigend in das stille Wasser starrten. Der Mann ließ den Halogenstrahl über den schmalen unterirdischen Teich gleiten – und stutzte. Nur ein paar Meter entfernt, dort, wo sich die Decke in das Wasser zu senken begann, schimmerte etwas. Kein Stein, kein Fels. Etwas Blaues. Ein Kleidungsstück. Eine Hose, ein Pullover. Mit ausgestrecktem Arm versuchte er, das Objekt besser anzuleuchten. Der Lichtstrahl seiner Lampe spiegelte sich auf der Oberfläche des Wassers. Die Buben hinter ihm klammerten sich an seine Hosenbeine. Es dauerte zwei, drei Sekunden, bis er realisierte, was er entdeckt hatte. Das Blaue waren Jeans, in denen ein Körper steckte, ein Mensch, der seltsam erstarrt auf dem Rücken lag, mehr als einen halben Meter unter der Wasseroberfläche.
Der Familienvater spürte, wie sein Herz zu rasen begann und seine Knie weich zu werden drohten. Noch immer hielt er den scharfen Lichtstrahl auf diesen Menschen gerichtet, dessen Augen weit geöffnet waren – als habe gerade erst ein Todeskampf stattgefunden. Stille. Totenstille. Kein Schrei, keine verzweifelten Hilferufe. Der Mensch, der da im Wasser lag, war tot. Erst jetzt nahm der junge Vater die Tropfen wahr, die sich ein Stück von der Leiche entfernt von der Decke lösten, sanft auf das Wasser platschten und dessen Oberfläche kräuselten. »Ist der ... ist der tot?« flüsterte der jüngste Bub. Der Vater
Weitere Kostenlose Bücher