Mordloch
Stadt lockt, gab es in ganz Deutschland. Kruschke erwähnte dabei gerne den ›Rasenden Roland‹, der bekanntermaßen auf der Insel Rügen für Begeisterung sorgt.
»Wir werden eines Tages das interessanteste Dampfzugnetz in dieser Republik haben«, prophezeite Kruschke und nahm einen kräftigen Schluck, »wir fahren von Gerstetten nach Amstetten und dann auf der Hauptstrecke die berühmte Geislinger Steige hinab – und schließlich noch quer durch die Stadt. Leute, das wird die Eisenbahnfans aus ganz Eu-ropa anlocken.«
Florian strahlte. Die Reaktion der anderen war eher zurückhaltend. Sie dachten an die Arbeit, den Bürokratismus und vor allem an die hohen Kosten. Sie konnten sich nicht so recht vorstellen, dass die Hürden zu bewältigen sein würden, die ihnen das Eisenbahnbundesamt zur Aktivierung der Strecke zweifellos in den Weg stellte. Dazu brauchte man Geld, viel Geld. Und man brauchte Geduld und gute Nerven, um all den vielen Bestimmungen und Gesetzen gerecht zu werden, die an den Betrieb einer privaten Eisenbahn geknüpft waren.
Immerhin hatten die Stadtverwaltung und die Kommunalpolitiker großes Interesse daran gehabt, zumindest die Trasse zu erhalten. In zähen Verhandlungen war es sogar gelungen, die Bahn AG von ihrem zunächst geradezu abenteuerlich hohen Verkaufspreis abzubringen. Jetzt jedenfalls gehörte die Strecke der Kommune, die jedoch selbst angesichts knapper Finanzen kaum in der Lage wäre, sie sinnvoll zu nutzen. Die Umweltschützer hätten am liebsten das Gleis herausgerissen und die Trasse als Radweg oder Busspur genutzt. Letztlich war es dann aber doch gelungen, dem Vorhaben der Hobbyeisenbahner den Vorrang einzuräumen und sie den Versuch unternehmen zu lassen, die Strecke wieder zu beleben.
Kruschke strahlte mit jedem Schluck, den er aus dem Weizenbierglas nahm, noch mehr: »Die Formalitäten sind eingeleitet. Und nun gilt es, die Strecke vom Bewuchs zu befreien.« Er lächelte. »Dazu brauchen wir einen Bagger, einen schienentauglichen natürlich.«
Seine Zuhörer stutzten. Sie wussten, dass Kruschke schon oftmals das Unmögliche möglich gemacht hatte. Aber jetzt schien seine Euphorie mit ihm durchzugehen. Nur Florian hing an seinen Lippen.
»Wir müssen endlich Zeichen setzen«, fuhr der Redner unbeirrt fort, »Miesmacher hat diese Stadt da unten schon viel zu viel. Wenn es keine Menschen mehr gibt, die selbst was in die Hand nehmen, dann sag’ ich bloß eines: Gut’ Nacht, du schönes Geislingen. Verpennt doch eure Chance, die weltweit erste Stadt mit einer Eisenbahngebirgsüberquerung zu sein.«
Florian Metzger gefielen diese Worte.
Eine Stimme aus der Männerrunde unterbrach Kruschkes Redeschwall: »Und wie willst du das alles finanzieren?«
»Natürlich nicht nur mit Touristen, Thomas«, ging der Angesprochene auf den Kritiker ein, »sondern mit Güterverkehr. Ja, wir werden die großen Gewerbebetriebe in dieser Stadt wieder vom Schienenverkehr überzeugen. Ich hab’ das alles durchgerechnet. Zwei, drei Waggons pro Woche reichen.«
Seinen Zuhörer brauchte er nicht detailliert zu schildern, wie dies in der Praxis funktionieren konnte. Sie waren schließlich mit der Materie des privaten Schienenverkehrs bestens vertraut.
Seit die Bahn privatisiert war, durften auf deren Streckennetz alle möglichen Züge fahren – natürlich gegen Bezahlung. Diese Gebühr, nach Kilometern abgerechnet, war mit der Maut vergleichbar, wie sie auf den Straßen erhoben wird.
Auf dem deutschen Bahn-Streckennetz verkehrten längst regelmäßig Güterzüge der privaten französischen Gesellschaft Connex, mit der eine Kooperation denkbar sei, erklärte Kruschke. Allein auf der Strecke Ulm – Stuttgart sei täglich ein halbes Dutzend solcher Züge unterwegs. In Geislingen, wo es im Bahnhofsbereich noch Möglichkeiten zum rangieren gäbe, könnten Waggons abgekoppelt und dann mit einer Rangierlok auf die Nebenstrecke gebracht werden. »So funktioniert das landauf, landab – auch wenn die breite Öffentlichkeit noch gar nicht bemerkt hat, dass dies mit der guten alten Bundesbahn überhaupt nichts mehr zu tun hat«, berichtete Kruschke und fügte hinzu: »Ich brauch’ euch doch nicht zu sagen, dass dies hier in Amstetten seit Jahr und Tag so läuft. Die Heidelberger Druckmaschinen bedienen sich für ihren Betrieb da drüben«, er deutete mit dem Kopf in Richtung dieses Unternehmens, »mit großem Erfolg dieser Methode.«
»Und ausgerechnet du propagierst den Schienenverkehr ...?«
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