MORDMETHODEN
der Abteilung I der Milizverwaltung. Dort sollte entschieden werden, auf welche Weise die Identifikation erfolgen sollte. Derartige Gutachten waren nie zuvor abgegeben worden. Es fehlte also jegliche Erfahrung. Nur eines war ganz klar: Man konnte die Kopfrekonstruktion nicht einfach den Angehörigen vorführen. Zeigte man dem Vater oder der Mutter den Wachskopf des Sohnes (vorausgesetzt, dass sie ihn nicht für tot hielten), so würden sie erschrecken, und dann wäre eine objektive Identifizierung kaum möglich. Auf Anraten Gudows beschlossen wir, bei der Befragung nicht die Rekonstruktion, sondern eine Fotografie derselben, und zwar unter vielen anderen Fotos, zu benutzen. Damit die Fotografie der Rekonstruktion sich möglichst wenig von Lebendaufnahmen unterschied, fotografierten wir sie mit Mantel sowie mit und ohne Mütze in verschiedenen Stellungen und Ansichten. Schließlich entstanden sieben Fotos vom rekonstruierten Kopf des Toten. Dass sie kein lebendiges Gesicht darstellten, war nur bei genauer Betrachtung zu erkennen.
Fünf Tage später wurde der Unbekannte in meinem Beisein identifiziert. Der Untersuchungsrichter hatte inzwischen ermittelt, dass etwa ein halbes Jahr zuvor in dem Dorf K., unweit der Fundstelle der Knochen, ein Knabe verschollen war; schon mehrere Male war er von zu Hause fortgelaufen. Deshalb hatten sich die Eltern keine großenSorgen gemacht. Er würde schon wiederkommen; wohin sollte er auch verschwinden? Die Angehörigen glaubten, er würde, unternehmungslustig wie er war, herumstromern.
Der Vater des Kindes wurde vom Untersuchungsgericht zur Zeugenvernehmung nach Leningrad bestellt. Bei der Befragung teilte er mit, sein Sohn sei zwölf Jahre alt, rothaarig wie seine Mutter, aufgeweckt, ein guter Schüler, lese gern, mache sich nichts aus dem Bauernhandwerk und habe ständig damit gedroht, in die Stadt zu gehen. Der Vater war überzeugt, dass der Sohn noch lebte.
Nach der Befragung legte man ihm, wie vereinbart, mehr als 30 Fotos von Knaben im Alter zwischen 12 und 13 Jahren vor, darunter die sieben Aufnahmen des rekonstruierten Kopfs des Toten. Ohne zu zögern wies der Vater auf die Fotografien, die seinen Sohn zeigten, gleichzeitig sämtliche sieben Rekonstruktionsaufnahmen aus dem Stoß auswählend. Er kam nicht einmal auf den Gedanken, dass diese Fotos nicht das echte Gesicht darstellten. Als er eine der Fotografien betrachtete, sagte er nachdenklich: ›Oh, was für einen schönen Mantel er anhat; auch die Mütze ist neu. Es geht ihm also wohl gar nicht schlecht.‹ So wurde der ermordete Knabe ganz objektiv identifiziert. Der erste Versuch, die Schädelrekonstruktion in der kriminalistischen Praxis anzuwenden, war damit glänzend gelungen.
Die weitere Arbeit des Untersuchungsrichters verlief ohne mein Zutun. Ich entsinne mich nur noch, dass das Verfahren 1941 abgeschlossen werden konnte.«
Auch eine Arbeitsgruppe im neuseeländischen Auckland verwendet Gesichtsnachbildungen in Kriminalfällen. 1999 gelang ihr beispielsweise die Identifizierung einer Faulleiche, die ohne andere Erkennungszeichen im Manukau-Hafenaufgefunden wurde. Als vonseiten der Ermittler die Vermutung aufkam, es könnte sich um einen vermissten Seefahrer von der polynesischen Insel Kiribati handeln, wurden aus dessen Heim verschiedene Gegenstände zum Abgleich herangeholt. Ein Vergleich der genetischen Abdrücke der Haare aus seiner Unterkunft mit der DNA der Leiche gelang aber nicht, weil die Erbsubstanz in der Leiche zu stark zersetzt war. Daraufhin wurde anhand des Schädels ein Gesicht nachgebildet, eingescannt und auf dem Bildschirm über ebenfalls digitalisierte Fotos des vermissten Mannes gelegt. Die Übereinstimmung war für eine Identifizierung ausreichend, und der Seefahrer konnte für tot erklärt werden.
Oft hat man versucht, die Übereinstimmung der Rekonstruktionen auf Schädelgrundlage mit Porträts oder Fotografien bestimmter Menschen auf persönliche Fähigkeit von mir,insbesondere auf ein phänomenal entwickeltes Fingerspitzengefühl, zurückzuführen. Dass mir eine solche Exklusivität nachgesagt wird, ist für mich zwar sehr schmeichelhaft, entspricht aber nicht den Tatsachen. Schon der Erfolg meiner Schüler bei Anwendung der von mir vorgeschlagenen Methode beweist, dass sie in ihren Hauptkomponenten richtig ist. Sie gestalten nicht nur Porträts von Menschen der Stein- oder Bronzezeit, sondern erfüllen auch systematisch Aufgaben zur Identifizierung Unbekannter.«
Das von Gerassimow
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