MORDMETHODEN
angesprochene »Fingerspitzengefühl« ist übrigens nichts anderes als der schöngefärbte Vorwurf, den sich alle Gesichtsrekonstrukteure anhören müssen: Sie würden Zusatzinformationen in ihre Nachbildungen einfließen lassen und so das Ergebnis vorwegnehmen. Dass es sich dabei um ein normales kriminalistisches Vorgehen handelt, leuchtet vielen Laborwissenschaftlern nicht ein.
Auch dass Gerassimow behauptete, er hätte praktisch alle ihm vorgelegten Fälle gelöst, stimmte seine Kollegen grimmig. Sie vergaßen, dass ihm in der Sowjetunion ein ganz anderer kriminalistischer Apparat zur Verfügung stand, der ihn mit wesentlich mehr Nebeninformationen zu den Toten versorgen konnte, als es hierzulande möglich war. Außerdem, und das ist vielleicht noch wichtiger, wurden in den sozialistischen und kommunistischen Staaten Europas per Anweisung von oben alle Verbrechen, wenn offiziell überhaupt welche geschahen, nach außen hin als geklärt betrachtet.
Auch Richard Helmer hatte in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts genügend Versuche angestellt, um Gesichter zu Ermittlungszwecken nachzubilden. Er beschäftigte sich außerdem mit der Frage, wie man Fotos von Verstorbenen sicher einem Schädel zuordnen kann. Helmer konnte zeigen, dass beide Methoden, Rekonstruktion (Nachbildung) und Superimposition (Überlagerung), eine gute Ermittlungshilfe darstellen, wenn andere Methoden an ihre Grenzen stoßen.
Im Maisfeld-Fall war die Gesichtsnachbildung unter anderem deshalb hilfreich, weil es nur karge Hinweise darauf gab, wer den Toten gekannt haben mochte. Ein Foto half den Ermittlern daher, bei ihrer Suche möglichst viele Menschen anzusprechen. Das gelang auch, weil die Suche bereits grob in die richtigen Bahnen gelenkt worden war. Zeugen hatten berichtet, dass sich ein Mann namens Krzystof im vergangenen August kurz in Mannheim aufgehalten habe. Dort hatte er Zwischenstation auf einer Reise von Lublin nach Italien gemacht. Die polnischen Beamten suchten daraufhin im sozialen Umfeld von Kwiek und Bielawski nach einem Mann namens Krzystof – und wurden fündig: Krzystof Rejak, wohnhaft in Lublin und bekannt mit den beiden Gesuchten. Sofort wurden die teilweise noch erkennbaren Hautleistenabdrücke der Leiche mit den in Polen gespeicherten Fingerabdrücken von Rejak verglichen. Er war der Tote aus dem Maisfeld – die Identifizierung war gelungen.
Interessant ist nun der Vergleich der Gesichtsnachbildung mit einem Foto des echten Rejak. Weil Richard Helmer Hinweise auf die Haarform und -farbe des Toten hatte, war ihm eine gute Darstellung der gesuchten Person gelungen ( Abb. 6 ). Vergleicht man nun aber das maskenbildnerisch bearbeitete Kunstwerk mit der reinen Gesichtswiederherstellung ohne Haare, so wird schnell klar, warum die australischen Anatomen der Meinung waren, dass Gesichtsnachbildungen nicht viel taugten. Ohne Haare wäre wohl auch Helmers gute Rekonstruktion fehlgeschlagen. Doch bei vielen Leichen bleiben gerade die Haare lange erhalten – sie faulen praktisch nicht.
Es stimmt also, dass ein Schädel, der nur mit den errechneten Weichteilschichten überzogen wird, kaum oder falsch erkannt wird. Der Fall aus Mannheim zeigt aber, dass sogar bei einer schweren Verbrennung noch genügend Haarreste übrig bleiben können, um ein für die Ermittler verwendbares Gesicht samt Haaren nachbilden zu können.
»Ein gut gelungenes rekonstruiertes Gesicht auf einem Porträtfoto«,sagt Richard Helmer, »kann dabei so lebensecht aussehen, dass ein nicht eingeweihter Betrachter unter Umständen nicht sicher erkennen kann, dass es sich um ein rekonstruiertes Modellgesicht handelt.« Dass ein solches Foto nicht mehr – aber auch nicht weniger – als eine Ermittlungshilfe darstellt, ist Helmer klar. »Eine plastische Gesichtsrekonstruktion soll und kann nur Hinweise geben. Ein Identitätsbeweis muss durch andere Untersuchungsverfahren geliefert werden.«
Das gilt für alle kriminaltechnischen Methoden. Noch nicht einmal ein absolut sicherer genetischer Fingerabdruck darf vor Gericht der einzige Grund für die Verurteilung eines Angeklagten sein. Es muss immer auch andere Hinweise darauf geben, dass die Tat vom ihm begangen wurde. Jeder Sachbeweis muss durch kriminalistisches Denken in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Sonst ist er zwar für sich genommen wahr, im Gerichtsverfahren aber wertlos.
Das Ende vom Lied
Am 12. Mai 1994, neun Monate nach dem Mord im Maisfeld, wurde der gesuchte
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