MORDMETHODEN
hervorgeholt werden. War ein Brief an Lindbergh adressiert, würde der Absender sogleich festgenommen werden.
Diese Idee hatte den Vorteil, dass das entführte Kind nicht in zusätzliche Gefahr kommen würde. Denn wenn der Briefeschreiber die Polizisten vorab entdeckte, würde er schlimmstenfalls zu einem anderen Briefkasten gehen. Warf er den Brief jedoch ein, säße er in der Klemme.
Lindbergh war gegen diesen Plan. Im Gegensatz zu dem diplomatisch auftretenden Polizeichef Schwarzkopf aus New Jersey war es Mulrooney aber egal, was der Ermittlungsamateur Lindbergh wollte oder nicht. Das wiederum hörte dieser nicht gern. Er drohte dem New Yorker Polizeichef, er würde sofort mit jedem Einzelnen seiner politischen und geschäftlichen Freunde sprechen, wenn Mulrooney nicht parierte. Das war zu viel: Der Kampf zwischen Held und Polizeichef ging zugunsten des Ersteren aus. Doch schon am nächsten Tag traf der dritte Erpresserbrief ein. Er trug den Poststempel des gleichen Stadtgebiets, das Mulrooney hatte überwachen wollen. Nun war es zu spät für Bedauern. Rückblickend hätte Mulrooneys polizeilicher Einsatz mit absoluter Sicherheit den Fall gelöst, wie sich noch zeigen wird. Doch Colonel Lindbergh hatte gegen den New Yorker Polizeichef gesiegt, und das war auch schon etwas.
Ein Butler, ein Segler und ein Kindermädchen
Trotzdem gingen die Ermittlungen im Hintergrund, das heißt in New Jersey, langsam weiter. Zuerst kamen die Hausangestellten an die Reihe. Die Whatleys schienen als Informanten der Entführer mangels Motiv zunächst auszuscheiden. Betty, das Kindermädchen, kam da schon eher infrage. Denn sie war erstens eine Einwanderin aus dem armen Schottland und zweitens unverheiratet.
Tatsächlich hatte sie ihren Freund »Red« Johnson sofort angerufen, nachdem Lindbergh die Terminänderungen durchgegeben hatte. Besagter Johnson war ebenfalls Einwanderer, wenngleich aus Skandinavien. Wo genau er herkam, wollte er nicht preisgeben, was ebenfalls verdächtig schien. Außerdem stellte sich heraus, dass er auf einem Segelboot arbeitete, das einem ehemaligen Geschäftspartner des jüngst verstorbenen Vaters von Anne Lindbergh gehörte! Das war zu viel des Zufalls. Johnson saß tief in der Tinte.
Wie sich herausstellte, hatten sich Betty Gow und Johnson kennen gelernt, als die Lindberghs mit der Familie Morrow und deren Geschäftsfreunden in der Sommerfrische waren. Johnson musste schon sehr abgebrüht sein, um sich zuerst auf das Schiff des Geschäftsfreundes zu schleichen und dann den Weg in Bettys Herz zu finden. Erst kürzlich war Johnson sogar nach Englewood umgezogen, »um Betty näher zu sein«, wie er sagte. Die Polizei hatte eine bessere Erklärung für seine zögerliche Gesprächsbereitschaft und behielt den Jungen im Auge.
Kurz darauf wurde Red Johnson zur Vernehmung festgenommen. Das war damals auch in den USA ohne richterlichen Beschluss möglich. Im Auto des Seglers fand sich zudem eine leere Milchflasche – wohl, um den kleinen Charles zu ernähren. Nun wurde es sehr ernst für Johnson.
»Ich trinke eben gerne Milch«, sagte er in der Befragung, »und im Auto werfe ich alles Mögliche auf die Rückbank.« Diese Erklärung brachte ihm keinerlei Freundschaft bei den Beamten ein, und er wurde weitere 17 Tage festgehalten und mit dem damals üblichen Nachdruck vernommen. Hatte irgendjemand schon von Seeleuten gehört, die Milch trinken? Johnsons Stern sank weiter.
Am 19. Tag seiner Haft gab es eine gute und eine schlechte Nachricht für ihn. Johnson kam frei, durfte aber nicht zurück zu Betty, für die er eigens umgezogen war. Seine Papiere zeigten, dass Red illegal eingereist war. Deswegen hatte er auch seine Herkunft verschleiern wollen. Die verunsicherte Staatsgewalt beschloss daher, den Einwanderer unverzüglich nach Skandinavien zurückzuschicken. Es wurde eine traurige Atlantiktour für Johnson, deren einziger Vorteil war, dass er mit der US-amerikanischen Polizei fortan nichts mehr zu tun hatte.
Nun kam Betty an die Reihe. Vielleicht hatte sie die Tat ganz allein ausgeführt und das Baby im Haus versteckt, während der Tumult losbrach? Wenn das Kindermädchen die Täterinwar, erklärte das auch, warum Lindy junior nicht geschrien hatte: Er kannte und liebte seine Nanny.
Aber warum war sie nach einer halben Stunde noch einmal ins Kinderzimmer gegangen? Und warum hatte sie das Licht nicht eingeschaltet, als sie zuletzt um zehn Uhr abends hineinging? Wieso hatte sie ihren Freund angerufen,
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