Mordrausch
das wusste er.
Barakat wohnte in einem bescheidenen Ziegelhaus in St. Paul’s Highland Park, in einer Straße mit gepflegten Häusern und gewissenhaft vom Schnee befreiten Gehwegen, mit Kindern und gelben Schulbussen. Sein Vater hatte das Haus für ihn erworben, es ihm jedoch nicht überschrieben, um es zur Verfügung zu haben, wenn die Familie aus dem Libanon nach Amerika übersiedelte. Sie investierten in Immobilien, kauften Goldmünzen und ermöglichten ihren Kindern amerikanische Bildung.
Der Wert amerikanischer Häuser sei noch nie gefallen, hatte sein Vater gesagt. Ein Jahr später, als die Preise dann wider Erwarten doch zu sinken begannen, hatte sein Vater mindestens dreißig Objekte auf den heißen Märkten von Kalifornien und Florida besessen, was bedeutete, dass er empfindliche Verluste erlitt und Barakats monatliche Unterstützung auf fünftausend Dollar kürzte. »Du bist erwachsen und Arzt«, hatte er gesagt. »Mit Fleiß kannst du es zu etwas bringen.«
»Ich will kein Arzt sein«, hatte Barakat entgegnet. »Und nicht in St. Paul leben. Das hier ist nicht der Libanon, Vater, es ist wie am Nordpol. Neulich hatten wir fast minus dreißig Grad.«
»Der Mensch muss arbeiten. Schließ die Assistenzzeit im Krankenhaus ab. Dann kannst du hingehen, wo du möchtest, meinetwegen nach Los Angeles. Ich muss sparen. Entweder du kommst mit fünftausend im Monat zurecht, oder du musst hungern.«
Doch Barakat konnte von fünftausend Dollar im Monat nicht leben; das Geld reichte nicht für seine Sucht. Seine finanziellen Probleme hatten ihn zu den Macks geführt. Die Aktion war sein Vorschlag gewesen, weil sie so einfach aussah.
Und nun das.
Und die blonde Frau.
Wenn das die blonde Frau aus dem Aufzug war, und das vermutete er, weil das Timing stimmte, hatte er ein Problem. Für ihn gab es keinerlei Grund, sich zu diesem Zeitpunkt dort aufzuhalten – die Notaufnahme befand sich am anderen Ende des Krankenhauses. Wenn sie einen von Lyle Macks Männern identifizierte und gefragt wurde, ob sie noch jemanden gesehen habe …
Er sank in einen Sessel, stützte den Kopf in eine Hand und dachte über die blonde Frau und den Stoff nach: Lyle Mack hatte gesagt, er habe ihn. Feuer im Blut; Barakat brauchte das Zeug. Warum nur hatte er gesagt, er würde es ein andermal holen? Er brauchte es jetzt …
Denk an die blonde Frau.
Wenn sie um diese Zeit ins Krankenhaus gekommen war, gehörte sie zur Belegschaft, und zwar zur medizinischen, nicht zur Verwaltung. Als Notfall wäre sie nicht in die Parkgarage gefahren. Und falls sie Krankenschwester war, hatte sie einen reichen Mann – Schwestern fuhren keine Audis.
Eine Ärztin? Möglich. Es gab viele Ärztinnen.
Seine Gedanken wanderten zurück zu Mack. Er hatte den Stoff. Barakat musste ihn nur holen. Wie ein Übergewichtiger sich einen Donut vorstellt, malte er sich einen dicken Beutel mit Kokain aus.
Der Schlüssel zum Himmelreich. Barakat war seit drei Tagen clean, und der Zustand gefiel ihm nicht. Obwohl er nicht unter körperlichen Entzugserscheinungen litt – er zitterte nicht und hatte keine Halluzinationen –, empfand er die psychische Abhängigkeit als sehr real. Ohne Koks und Geld für Koks führte er ein tristes, farbloses Leben. Das Kokain schenkte ihm Leben, Intelligenz, Esprit, Aufregung, Klarheit, bunte Farben.
Er warf einen Blick in seine Brieftasche: neun Dollar, und er hatte einen ganzen Tag lang nichts gegessen. Er musste essen. Und den Stoff holen.
Das Polizeipräsidium von Minneapolis befindet sich im Rathaus, einem unansehnlichen braunen Gebäude, das im Glas-Stahl-Loop von Minneapolis hockt wie eine hässliche Warze. Marcy Sherrill saß zusammengesunken auf ihrem Bürostuhl, die Tür bis auf einen kleinen Spalt geschlossen.
Lucas steckte die Nase hinein und rief: »Hallo?« Als Antwort erhielt er ein leises Schnarchen. Er klopfte und versuchte es noch einmal, diesmal lauter: »Hallo?«
Marcy zuckte zusammen, richtete sich auf und wandte sich gähnend der Tür zu. »Herein … Scheiße, ich bin eingedöst.« Sie stand halb auf und sank wieder auf den Stuhl zurück, um in ihrer Schreibtischschublade nach Pfefferminzbonbons zu kramen. Als sie sie gefunden hatte, steckte sie eines in den Mund.
Marcy war eine gepflegte, athletische Frau um die vierzig mit dunklen Haaren und Augen, die keiner Auseinandersetzung auswich. Sie und Lucas waren lange vor Weather kurz miteinander gegangen. Wie Marcy es ausdrückte: vierzig Tage und vierzig
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