Mordrausch
sich noch einmal zu Virgil umdrehte und ihm kurz zuwinkte. Virgil erwiderte ihr Winken.
»Zu uns hat sie nicht ›Na, wie geht’s?‹ gesagt«, beklagte sich Lucas Shrake gegenüber.
»Eigentlich hat sie mich gemeint«, erklärte Shrake, »aber der verdammte Flowers hat sich vor mir aufgepflanzt.«
Lucas und Shrake fuhren zurück zum SKA, um sich mit Del und Lannie Tote zu treffen, einem Gang-Spezialisten, der sich besonders gut mit den Seed auskannte. Mit Del, der sich gerade mit Lucas’ Sekretärin unterhielt, suchten sie Tote in Frank Harris’ Büro auf. Tote war ein schlanker Läufertyp und trug gediegene graue Anzüge mit weißen Hemden und dunkelblauen Krawatten sowie amerikanische Flaggenanstecker am Revers. Er stand im Ruf, konservativ, Christ und kompetent zu sein.
Lucas klärte alle über die bisherigen Ereignisse auf. Als er fertig war, fragte Harris: »Wie sicher sind Sie sich bei Joe Mack? Achtzig Prozent?«
»Neunundneunzig Prozent«, antwortete Lucas. »Wir müssten jemanden finden, dem wir die Daumenschrauben anlegen können, um mehr über das Leben der Macks zu erfahren. Darüber, mit wem sie verkehren, wer Joe verstecken würde und über seine Handlungen informiert ist.«
»Haben Sie mit ihrem Vater gesprochen? Mit Ike? Der wäre der Richtige«, sagte Tote.
»Wo ist der?«, erkundigte sich Lucas.
»Oben bei Spooner. Hat da eine Hütte im Wald. Er arbeitet in einer Autowerkstatt im Ort, frisiert alte Harleys.«
»Kriminell?«, fragte Del.
»Kleinkriminell«, sagte Tote. »Wie alle Macks. Lyle ist sozusagen die Krone der Mack-Schöpfung. Angeblich hat Ike mal Meth hergestellt und durch seine Jungs unter die Leute bringen lassen, aber damit aufgehört, als das zu heiß wurde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gestohlene Maschinen kauft, sie auseinandernimmt und die Teile in andere einbaut.«
»Haben Sie irgendetwas, das wir als Druckmittel verwenden könnten?«
Tote schüttelte den Kopf. »Er steht nicht im Blickpunkt unseres Interesses, weil er sich nicht mehr mit den Typen von der Gang rumtreibt … ist zu alt dazu. Außerdem hat’s ihn vor acht oder neun Jahren auf dem Highway 53 aus dem Sattel gehoben. Beine und Becken waren mehrfach gebrochen. Er ist mobil, hinkt aber stark.«
Harris lächelte schmallippig. »Wenn er zu flüchten versucht, dürften Sie kein Problem haben, ihn zu erwischen.«
»Finde ich nicht witzig«, sagte Shrake.
»Wer sonst noch?«, fragte Lucas. »Wir brauchen jemanden, auf den wir Druck ausüben können, jemanden, der singt.«
»Ansel Clark«, antwortete Tote nach kurzem Zögern. »Eigentlich wollte ich ihn aus der Sache raushalten, bis ich Zeit gehabt hätte, mit ihm zu reden.«
»Wer ist das?«, erkundigte sich Del.
Clark, erklärte Tote, sitze im Staatsgefängnis von Stillwater eine fünfjährige Strafe für einen bewaffneten Überfall in Forest Lake ab, bei dem er erkannt worden sei. Clark habe seinen Komplizen gegen eine Verringerung seiner eigenen Haftstrafe verraten. »Er ist nicht gerade beliebt. Jedes Mal, wenn Clark einen neuen Fernseher kriegt, macht jemand ihn kaputt. Die Wärter haben die Zelle so umorganisiert, dass die Glotze an der hinteren Wand ist, aber er hat schon drei Geräte verloren und kein Geld und keine Angehörigen oder Freunde draußen, die ihm ein neues besorgen würden.«
»Er braucht also einen Fernseher«, stellte Shrake fest.
»Er ist verzweifelt«, sagte Tote. »Bei der letzten Inventur waren in seiner Zelle nur ein altes Eisenbahner-Magazin und ein illustriertes Wörterbuch. Er hatte nicht mal was, womit er sich … die Zeit vertreiben konnte.«
»Eine Wichsvorlage«, murmelte Shrake.
Lucas verstand sich gut mit dem Leiter des Strafvollzugs, der ihn an einen Wärter in Stillwater verwies.
»Wenn jemand ihn mit Ihnen sprechen sieht, kriegt er noch mehr Probleme, als er bereits hat«, sagte der Wärter. »Aber kommen Sie ruhig; mir wird schon was einfallen.«
Lucas und Del brauchten etwa eine halbe Stunde bis zum Gefängnis, wo sie sich mit dem Wärter trafen, einem gewissen Jon Orff. Orff empfing sie im Eingangsbereich und führte sie durch ein Labyrinth aus Büros.
»Ich habe den Mann, der für die Disziplinarmaßnahmen zuständig ist, gebeten, ihn aus der Arbeit rauszuholen«, erklärte Orff. »Clark ist jetzt im Isolationsbereich. Es sollte also keine Schwierigkeiten geben.«
Durch mehrere Sicherheitstüren gelangten sie in den Isolationsbereich mit ziemlich kleinen Metallboxen. Orff bat den Wächter,
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