Mords-Bescherung
Weitersteins. Viel mehr als seine lange, gerade Nase
und den spöttisch verzogenen Mund vermochte sie im dichter werdenden
Schneegestöber kaum auszumachen. Die breite Krempe des Huts überschattete den
Rest seines Gesichts. Dennoch erkannte sie ihn sogleich. Wortlos breitete er
die Arme aus. Sie sank gegen seine Brust. Der vertraute Geruch nach Leder,
Tabak, Pferd und Rosenwasser erfreute ihr das Herz.
»Uns hat er ebenso endlich die lang ersehnte Erlösung gebracht«,
schälte sie sich aus seinen Armen und winkte Resi heran. »Sieh nur, auch dir
ist ein Kind der Hoffnung geboren. Lass uns gemeinsam von hier fortgehen und
unseren Frieden im Süden finden. Dieses Amulett hier mit den Splittern aus dem
heiligen Stall Bethlehems wird uns künftig vor Unheil bewahren.«
Karl Ploberger
24 Stufen – das Mysterium rund um die Kastenkrippe
Der letzte Atemzug war ein ganz langer, dann lag er da in
seinem Bett. Die Augen weit geöffnet und um ihn herum Neffen und Nichten.
Tränen in den Augen, und doch war es eine Erlösung. Siebenundneunzig Jahre ist
er alt geworden, der alte Schulrat und Ehrenbürger, der Heimathausobmann und
Krippenkaiser, wie ihn viele nannten.
Toni Schneeberger war die letzten Jahre kaum noch aus dem Bett
gekommen: Herzprobleme, Gicht und dazu noch allerlei andere Wehwehchen. Das
Schmerzhafteste freilich war die Tatsache, dass die Seinige schon vor vielen
Jahren gestorben war. »Sie hat mich alleingelassen«, war sein Vorwurf, den er
immer und immer wiederholte.
Die Zeit vertrieb er sich in den ersten Jahren mit ausgedehnten
Spaziergängen, später, als er nicht mehr mobil war, konzentrierte er sich auf
sein eigentliches Hobby – das Krippenbauen. Jenes Brauchtum, das im
Salzkammergut seit Jahrhunderten gepflegt wird und bei dem Szenen der Geburt
Christi und anderer Bibelerzählungen mit kunstvollen Dioramen dargestellt
werden.
Genau das waren auch im Moment des Todes seine Gedanken –
»Vierundzwanzig Stufen«, sagte er mit seinen letzten Atemzügen. Und er hauchte
noch: »… die Kastenkrippe beim Dachboden.«
***
Das Begräbnis wenige Tage vor dem Heiligen Abend war ein Treffen
aller Alten des Ortes. Die Trauer war schon vorhanden, »aber mit
siebenundneunzig darf man wirklich nicht unzufrieden sein«.
Die Zehrung im Wirtshaus war so, wie es sich gehört: mit Rindfleisch
und Semmelkren, und sie dauerte bis in den späten Abend hinein. Da wurde viel
an Geschichten und Erlebnissen mit dem alten Schulrat berichtet. Viel Lustiges,
die eine oder andere Ohrfeige, die es damals ganz rechtmäßig für die
Schulkinder gegeben hat, wenn sie sich nicht ordentlich aufgeführt hatten.
Viele meinten, die Schulkinder habe er immer als die Seinen bezeichnet –
kinderlos, wie seine Ehe geblieben war, war er mit ihnen auf botanische
Wanderungen gegangen, hatte für seine Krippen Wurzeln und Moos gesammelt und
mit den Buben und Mädchen musiziert.
Es war schon spät geworden. Ein Begräbnis wenige Tage vor
Weihnachten passt nicht in den Terminkalender. Einige saßen aber noch gemütlich
beisammen, als die alte Hummer-Bäuerin zu erzählen begann. Zunächst nur einem
ihrer Sitznachbarn, denn ihre Stimme war mit knapp über neunzig nicht mehr die
lauteste. Doch nach und nach spitzten auch alle anderen am Tisch die Ohren und
lauschten, was sie sagte: »Er war ja ein großer Kunstliebhaber, der Toni. Doch
er hat nicht nur die bäuerliche Kunst aus seiner Region gesammelt und im
Heimathaus für die Nachkommen aufbewahrt. Ich sag euch – er hat auch ein ganz
wertvolles Bild.«
Jetzt waren nicht nur alle absolut ruhig, die an ihrem Tisch saßen,
sondern es kamen auch die ersten Neugierigen von den umliegenden Tischen.
»Gustav Klimt – den kennt wohl jeder«, sagte sie, so als ob sie ihn
selbst getroffen hätte, »war in den letzten Jahren seines Lebens oft hier am
Attersee und malte seine Landschaftsgemälde.« Der kleine Toni, so erzählte sie
weiter, war damals um die fünfzehn Jahre alt und oft mit ihm unterwegs, zeigte
ihm den einen oder anderen versteckten idyllischen Platz.
Im Wirtshaus war es nun ganz ruhig geworden. Der Schneeberger und
der Klimt – davon hat man in diesem Nest, wo jeder jeden kennt, wo nichts
geheim bleibt, wo alles am Stammtisch besprochen wurde, nichts gewusst.
Die Resi, wie die Hummer-Bäuerin hieß, fuhr nach einer kurzen Pause
fort. »Er hat mir damals die ganze Geschichte erzählt, als er für die Nazis in
den Krieg gehen musste. Ich war damals ein wenig verliebt in den
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