Mords-Bescherung
Poldi.
Sie sah ihn an und rief: »Ach so, eine kleine Weihnachtsfeier soll
das gewesen sein. Du bist um sieben Uhr früh weggefahren, und weißt du, wie
spät es jetzt ist?«
Um Zeit zu gewinnen, versuchte er, ihrem ersten Angriff durch
weiteres Schweigen zu begegnen, wankte aber beim Schuheausziehen und fiel zu
Boden.
»Und besoffen ist er auch noch, der Herr Bezirkshauptmann. Pfui
Teufel, das sind wieder Weihnachten.«
Willibald S. erhob sich mühsam, ging mit einem »Sei jetzt
endlich ruhig« den Vorzimmergang entlang und begann zu brüllen: »Was ist das
für eine Negermusik? Und das zu Weihnachten?«
»Der Bub schmückt den Christbaum. Du warst ja nicht da«, sagte sie
resigniert.
»Mit dem englischen Gequake? Nicht in meinem Haushalt.« Er stürmte
an ihr vorbei in das Wohnzimmer. Kurz darauf völlige Stille. Dann ein Schreien:
»Hat dir niemand gesagt, dass der Christbaumspitz ganz am Schluss auf die
Spitze des Baumes gehört. Erst wenn der gesamte Baum geschmückt ist, darfst du
ihn draufsetzen. Aber doch nicht jetzt am Anfang. Und die Likörflascherl müssen
in Reichweite sein und nicht irgendwo da oben nur zum Anschauen.«
»Lass den armen Buben in Ruhe«, versuchte die Mutter zu beruhigen.
»Wer ist da arm? Ich bin arm. Mit so einem Sohn ist man bestraft.«
»Sei jetzt endlich ruhig. Charlotte ist krank. Weck sie nicht auf.«
»Die habe ich ja ganz vergessen. Die liegt mit ihrem Mumps seit
vorgestern auf der Küchenbank herum. Wenn sie einen lichten Moment hat, sag
ihr, dass schon Ferien sind und sie nicht mehr die Kranke mimen muss.«
Dann legte er sich quer über die Wohnzimmercouch und schlief
augenblicklich ein.
Leopoldine S. versuchte zu retten, was an den Weihnachten 1968
überhaupt noch zu retten war. Sie verließ den Herd, holte mehrere Geschenke,
die in Weihnachtspapier verpackt waren, aus dem Schlafzimmer und legte sie
unter den halb fertig geschmückten Weihnachtsbaum. Sohn Willi hatte nach dem
Gebrülle seines Vaters die Arbeit demonstrativ eingestellt und sich in der
Wohnküche wieder zum Fernseher gesetzt. Es lief ein großer weißer Zeiger auf dunkelgrauem
Hintergrund nach oben. Der kleine Zeiger stand still. Dann erschien eine
Sprecherin in einer hochgeschlossenen Bluse mit weißem Kragen und sagte
lächelnd den wichtigsten Satz des 24. Dezembers 1968:
»Es ist siebzehn Uhr. Der Österreichische
Rundfunk bringt jetzt das Weihnachtslied ›Stille Nacht, heilige Nacht‹,
gesungen von den Wiener Sängerknaben. Am Dirigentenpult steht Ferdinand
Grossmann.«
»Willi! Aufwachen! Die Sängerknaben singen schon.«
Sie nahm die Schürze ab, rückte ihre Dauerwellen zurecht und
rüttelte ihren Mann wach. Zu dritt stand Familie S. vor dem traurigen
Baum. Kein Lametta, keine Kerzen, lediglich der Christbaumspitz steckte, und
ganz oben hingen einige wenige Schnapsflaschen aus Schokolade – eingewickelt in
buntem Stanniolpapier. Auf dem Wohnzimmerschrank standen zwei Kartons. Einer war
halb voll mit Likörfläschchen, der andere leer. Zu ihrem Entsetzen bemerkte die
Mutter, dass ihr Junge die Schachtel mit den Kostbarkeiten vom Vorjahr
aufgegessen hatte. Aus der Küche erklang das berühmteste Weihnachtslied der
Welt aus Dutzenden Knabenkehlen. Die Mutter sang laut mit. Willi senior und
Willi junior brummten etwas dazu.
Die Geschenke, die unter dem Baum lagen, hatte alle sie besorgt: Für
den Vater einen dunkelroten Pullover mit V-Ausschnitt, für den Sohn einen
selbst gestrickten Hippiepullunder und für Charlotte die Single-Schallplatte
»Ich sprenge alle Ketten«, gesungen von Ricky Shayne.
»Was liegt denn da? Was hat denn das Christkind noch gebracht?«,
fragte Leopoldine und zerrte eine ziemlich große Kiste unter dem Baum hervor.
Sie nahm das kleine Anhängeschild zur Hand und las vor: »Für Poldi
von ihren beiden Willis«. Sie drückte ihrem Sohn und ihrem Mann jeweils einen
Kuss auf die Wangen, öffnete jedoch ihr Geschenk nicht. Sie kannte den Inhalt.
Durch eine großzügige Geste ihres Mannes hatte sie sich bei einem Vertreter
einen neuen Staubsauger kaufen dürfen und selbst in Weihnachtspapier gepackt.
Die Mutter klatschte in die Hände und sagte: »Und jetzt wollen wir
essen.«
Jedes Jahr zu Weihnachten kochte sie das gleiche Menü:
Schinkenrollen, Rindsrouladen mit Erdäpfelpüree und zum Nachtisch
Ananasscheiben aus der Dose mit einem Berg Schlagobers. Dazu gab es Rotwein.
Aus der »Pitellen«, wie sie zu sagen pflegte, um immer wieder von ihm
korrigiert zu
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