Mords-Bescherung
Und womit? Mir war klar, dass ich auf gar keinen Fall mit
diesen Leuten zusammentreffen durfte, wer immer sie sein mochten. Denn sonst
könnte ich mein eigenes Vorhaben vergessen. Daher trat ich den Rückzug an, noch
ehe ich die Hütte berührt hatte, und stapfte, so schnell ich konnte, den
Trampelpfad retour zum ersten Schneehaufen. Dort kauerte ich mich tief in den
Schnee und wartete. Es dauerte eine Weile, in der ich fast erfror, aber dann
rührte sich etwas. Ein Mann und eine junge Frau marschierten ein Stück weit
entfernt über die nächtliche Wiese. Sie hielten sich an den Händen, und das
Mädchen kicherte immer wieder, während der Mann mit Zischlauten zur Ruhe
mahnte. Etwas an seiner Art zu gehen, kam mir bekannt vor, und als das Mädchen
übermütig rief: »Toni, zieh doch nicht so«, wusste ich plötzlich alles. Ich
wollte aufstehen und ihn anrufen, den elenden Betrüger, der uns alle für dumm
verkaufte. Mich, seine Frau und die dumme junge Gans da drüben auch. Aber ich
kam nicht hoch. Mir wurde schwindlig beim Gedanken an das, was ich beinahe um
seinetwillen getan hätte, und die Ohren fielen mir zu. Alle Geräusche um mich
herum verstummten. Die Welt war wie in Watte gepackt. Und dann kam mir mein
Abendessen hoch. Als ich fertig war, hatte das verliebte Paar längst das am
Rande der Wiese geparkte Auto erreicht und war davongefahren. Ich stand auf und
kletterte über den Schneeberg zurück zur Straße. Sie lag nun leer und ruhig.
Die meisten Fenster waren dunkel. Niemand bemerkte, wie ich unter Tonis Carport
verschwand, wo ich mich in eine dunkle Ecke drückte, um auf ihn zu warten, die
kleine Feile fest umklammert.
Volker Raus
Weihnachten 1968
1968 kam der Schnee ziemlich spät, und einen Tag vor
Weihnachten fegte Tauwetter die weiße Pracht wieder weg. Über dem Traunsee
lagen tiefschwarze Wolken, hinter denen sich Alpenberge versteckten. Es
regnete. Ein Alptraum für alle, die sich auf weiße Weihnachten gefreut hatten.
Mit hochrotem Gesicht drückte Mutter Leopoldine S. eine
dampfende Kartoffel nach der anderen durch die Presse. Zwischendurch rührte sie
mit einem hölzernen Kochlöffel in einer großen Pfanne, um das Fleisch nicht
anbrennen zu lassen. Sie war von kleiner Statur, schlank und trug eine karierte
Kleiderschürze. Dazu hatte sie ein weißes Leinenkopftuch umgebunden, um ihre
dunkelblonden Haare vor dem Kochdunst zu schützen. Erst gestern war sie beim
Friseur gewesen und hatte sich eine Dauerwelle machen lassen. Weihnachten ist
eben ein besonderes Fest.
In der Resopalwohnküche spielte sich das Leben der Familie S.
ab. Küchenkästen, Regale, Elektroherd, Kühlschrank, Herrgottswinkel und das
Fernsehgerät fanden zu einer kleinbürgerlichen Einheit zusammen. Dazu ein
Wandregal mit zwei beleuchtbaren venezianischen Gondeln aus Plastik und fünf
Schneekugeln mit Alpenmotiven. Eine Sitzecke mit Tisch und zwei Sesseln rundete
das Wohnidyll ab. Das große Fenster mit dem weißen Plastikrahmen gab den Blick
auf den Traunsee und den Traunstein frei. Wegen des strömenden Regens konnte
man den steil aufragenden Berg allerdings nur schemenhaft erkennen.
»Warum musst du gerade zu Weihnachten krank werden? Jetzt darf ich
alles alleine machen«, knurrte Leopoldine S. in Richtung Sitzecke. Dort
lag völlig regungslos Tochter Charlotte zusammengekauert, in rot und blau
karierten Wolldecken eingehüllt und den Hals mit einem dicken Schal umwickelt.
Die zwölfjährige Hauptschülerin schwitzte mit geschlossenen Augen vor sich hin.
»Lass Lotte in Ruhe. Du siehst doch, dass sie völlig fertig ist. Die
hat doch vierzig Grad Fieber«, schnauzte Sohn Willi seine Mutter an. Er stand
auf und schaltete das Fernsehgerät ein. Der Junge war fünfzehn Jahre alt,
hochgeschossen und mitten in der Pubertät.
»Kümmer dich lieber um den Christbaum, der liegt noch immer
ungeschmückt auf dem Wohnzimmerboden«, befahl Mutter Leopoldine. Sie war jetzt
dabei, die Eier in einen Plastiktopf aufzuschlagen, ein paar Tropfen Öl
hinzuzufügen und mit dem neuen Philips Handmixer zu einer Mayonnaise zu
vermengen.
Die Sache mit dem Christbaum war eigentlich die Angelegenheit von
Vater Willibald. Aber das Heimkommen vom Arbeitsplatz verschob sich mit
zunehmender Dauer seiner Funktion als Familienoberhaupt ständig nach hinten.
In den letzten Jahren hatte sie damit begonnen, den Christbaum
selbst zu schmücken. Der Vater musste nur noch mit dem kleinen Glöckchen
läuten, damit die Kinder in das Wohnzimmer
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