Mords-Bescherung
Linken lag. Vor mir, irgendwo
ganz weit hinten, hob sich schemenhaft dunkler Wald vom Weiß der Wiese ab. Und
oberhalb war auch alles weiß. Unglücklich ließ ich den Blick über das weite
Areal wandern. Wo konnte ich hier die Zeit überbrücken? In einem Loch im Schnee
wie der Typ in der Fernsehreportage zum Thema Überlebenstraining? Oder sollte
ich nach Hause gehen, mich aufwärmen und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal
aufbrechen? Der Gedanke war verlockend, aber ich gab ihn schweren Herzens
sofort wieder auf. Sowie Toni von seinen Rotariern zurück wäre, käme ich nicht
mehr weg und müsste alles auf den nächsten Donnerstag verschieben. Aber das
wollte ich auf keinen Fall. Nächsten Donnerstag sollte nach Möglichkeit bereits
das Begräbnis vorüber sein und langsam Ruhe in die Gemeinde einkehren, die der
scheinbar sinnlose Mord an einer jungen Mutter zweifellos in erheblichen
Aufruhr versetzen würde. Seufzend begann ich, gegen die Kälte anzuhüpfen und
mit den Armen zu fuchteln, und wirklich, es half. So würde ich schon aushalten,
bis die Kinder endlich nach Hause und ins Bett mussten. Und dann würde ich
zuschlagen. Oder besser, zustoßen. Unwillkürlich drückte ich den Griff der
Feile fester, als wollte ich mich daran festhalten. Ich hatte sie nach dem
Vorbild Luigi Luchenis präpariert, der als Mörder der Kaiserin Elisabeth in die
Geschichte eingegangen ist. Der Mann war mir bis zu meinem Musical-Besuch noch
nie untergekommen, aber als ich von seiner Geschichte erfuhr, war ich auf
Anhieb begeistert. Er hatte Elisabeth nämlich getötet, ohne ein Blutbad
anzurichten. Im Gegenteil. Als er sie auf ihrem Weg vom Hotel zum Schiff am
Genfer See angegriffen hatte, war ihr nicht bewusst geworden, dass er ihr seine
kleine, an drei Seiten scharf geschliffene Feile ins Herz gestoßen hatte. Sie
hatte noch gefragt, was mit ihr geschehen sei, und war weitergegangen. Erst auf
dem Schiff brach sie zusammen und starb zwanzig Minuten nach der Attacke im
Hotel. Das hatte mir gefallen, und im Zug zwischen Linz und Salzburg beschloss
ich, genau wie der Attentäter Lucheni vorzugehen. Er war auf die Feile
verfallen, weil er kein Geld gehabt hatte, um einen Revolver zu kaufen. Ich
verwarf den Gedanken an eine Schusswaffe, weil ich noch nie so ein Ding in der
Hand gehalten hatte. Es wäre aufgefallen, hätte ich mich plötzlich fürs
Schießen interessiert. Daher kam auch Gift nicht in Frage, zu dem mir jeglicher
Zugang fehlte. Hätte ich als Krankenschwester oder in einer Apotheke
gearbeitet, wäre das anders gewesen. Aber als Sekretärin auf der Gemeinde?
Daher kam mir die Idee mit der Feile wie gerufen, zumal ich, wie gesagt, sowohl
eine größere Schweinerei wie auch den sofortigen Tod unbedingt vermeiden musste.
Ich wollte längst weg sein, wenn die Gute aus unerklärlichen Gründen zu Boden
sank, und man sollte erst nach dem Entkleiden das kleine Loch in ihrer Brust
entdecken, aus dem nur wenig Blut sickerte. Ich lächelte bei dem Gedanken,
während ich den Kreis, in dem ich inzwischen herumhüpfte, immer mehr
vergrößerte, bis ich plötzlich, hinter einem zweiten vom Radlader aufgetürmten
Schneehaufen, die Bauhütte entdeckte. Vermutlich stand sie seit der Zeit hier
oben, als die Siedlung errichtet worden war, und wenn ich ganz großes Glück
hatte, war sie unversperrt. Sofort begann ich, durch den hüfthohen Schnee auf
sie zuzuwaten, und stieß zu meiner grenzenlosen Erleichterung schon nach
wenigen Metern auf einen kleinen Trampelpfad, der direkt zu ihr hinführte. Ich
fragte mich zwar, wer hier oben wohl herumlaufen mochte, vermutete aber, die
Hütte diene den Siedlungskindern als Spielplatz. Und mir bot sie die wunderbare
Aussicht, aus dem eisigen Nachtwind wegzukommen, der mich durch- und
durchblies. Ungeduldig beschleunigte ich daher meinen Schritt, doch als ich
schon fast an der Tür war und nach der Klinke greifen wollte, hörte ich von
drinnen ein Geräusch. Erschreckt fuhr ich zurück und lauschte angestrengt ins
Dunkel der Nacht. Was um alles in der Welt war das? Es klang wie ein Schnaufen,
aber ich konnte nicht sagen, ob es tierisch oder menschlich war. Vor Jahren
hatte sich einmal ein Dachs in den Garten meiner Eltern in Zwickau verirrt, der
ähnliche Geräusche produziert hatte. Aber an einen Dachs mitten im Winter in einer
verlassenen Bauhütte mochte ich nicht recht glauben. Und wenn ich davon
ausging, dass um diese Zeit auch keine Kinder mehr hier spielten, wer war dann
dort drin zugange?
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