Mords-Bescherung
stürmten, um den Baum und die
brennenden Kerzen bewundern zu dürfen.
Aufgrund des unerwarteten Andrangs beim Weihnachtseinkauf hatte sie
für den Baum heuer keine Zeit gefunden. Sie blickte auf die neue Quarzuhr, die
oberhalb des Herdes hing. Die Leuchtziffern zeigten fünfzehn Uhr dreißig. Die
Bescherung sollte in alter Familientradition um siebzehn Uhr sein. Auch ihre
Eltern hatten schon so gehandelt.
»Jetzt geh schon. Du bist alt genug. Putz sofort den Baum auf, sonst
gibt es heuer keine Weihnachten. Noch etwas: Bevor du die neu gekauften
Likörfläschchen aufhängst, nimm die alten. Vom Vorjahr ist eine Schachtel übrig
geblieben.« Ihr viel zu schnell gewachsener Sohn erhob sich aufreizend langsam
und kam mit ungelenken Schulterbewegungen widerwillig ihrem Auftrag nach. Er
warf die Wohnzimmertür hinter sich zu. Kurz darauf ertönte Radiomusik in
fünffacher Zimmerlautstärke.
Vater Willibald S. war Bezirkshauptmann von Gmunden und als
höchster Beamter der Region zuständig von der Stadt bis tief hinein in die
Alpentäler und auch für das erste Naturschutzgebiet des Landes rund um
Oberösterreichs höchsten Berg, den dreitausend Meter hohen Dachstein. Noch nie
hatte jemand mit nur vierzig Jahren einen so wichtigen Posten bekleidet. Aber
Willibald S. hatte sehr gute Freunde, und sein Vater war Staatssekretär im
Innenministerium gewesen.
Der Herr » BH «, wie ihn alle nannten,
saß in seinem holzvertäfelten Büro und hatte seinen engeren Mitarbeiterkreis zu
einem »kleinen Weihnachtsumtrunk« geladen. Die Bürokollegen waren alle in
Trachtenkleidung gekommen. Sie trugen Lederhosen bis zu den Knien und grüne Stutzen
mit festen Schuhen. Ihre grünen Jacken zeugten angeblich vom Waldreichtum der
Alpen. Die weiblichen Büroangestellten hatten sich mit ihren Festtagsdirndln –
Trachtenkleider mit bunten Schürzen – herausgeputzt.
Der holzvertäfelte Raum mit den riesigen Hirschtrophäen an den
Wänden spiegelte jene Zeit wider, als das Salzkammergut die Lieblingsregion des
österreichischen Kaisers Franz Joseph I. gewesen war. In Gmunden
stand damals schon das in Schönbrunngelb gestrichene Bezirksverwaltungsamt.
Rotwein und Weißwein wurden aus Doppellitern ausgeschenkt. Diese
dunkelgrünen Zweiliterflaschen gibt es nur in Österreich. Auf dem schweren
Eichenholzschreibtisch des Bezirkshauptmanns standen schon mehrere solcher
Flaschen leer getrunken herum. Die Schüsseln aus Gmundner Keramik waren auch
leer, die Weihnachtskekse alle aufgegessen.
Gegen sechzehn Uhr erhob sich Willibald S. senior von seinem
Sessel. Er war nicht allzu groß, wirkte aber vital und kräftig. Seine buschigen
Augenbrauen sowie seine tiefschwarzen struppigen Haare verliehen ihm etwas
Verwegenes. Er hielt sich an der Schreibtischplatte fest, sammelte sich kurz
und ging dann beherzt zum Schrank. Dort nahm er seinen grünen Lodenmantel und
den Trachtenhut heraus. Mit einem »Frohe Weihnachten« schüttelte er seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Hand und verließ sein Büro.
Bevor er die Tür schloss, drehte er sich noch einmal um und sagte:
»Nochmals schöne Feiertage euch und euren Familien!«
Leicht wankend verließ der » BH « das
Büro, stieg in seinen Dienstwagen, einen weinroten Opel Rekord, und fuhr den
Traunsee entlang bis zur Ortschaft Ebensee. Ganz ohne Angst. Kein Gendarm der
Welt hätte einen Herrn Bezirkshauptmann wegen Trunkenheit angehalten.
Willibald S. parkte seinen Wagen auf dem
Gemeinschaftsparkplatz einer fünfstöckigen Wohnanlage, die alles überragte, was
Ebensee hieß. Das »Hochhaus« nannten die Einwohner des Alpendörfchens ihren
Prachtbau. Errichtet für die Arbeiterfamilien der Salinen AG . Der Bezirkshauptmann lebte mit seiner Familie im
obersten Geschoss. Nicht gemietet, sondern gekauft. »Eine Eigentumswohnung ist
Besitz. Und Besitz bringt eine sichere Zukunft.« Mit diesen Worten hatte der
Herr » BH « die Dienstwohnung in einem alten
Jagdhaus der Bundesforste im dreißig Kilometer entfernten Bad Goisern
abgelehnt.
Mit dem Lift fuhr er in den fünften Stock. Bevor er die Wohnung
betrat, atmete er tief durch. Ihm war klar, dass jetzt höchste Konzentration
nötig war, um dem Familienfest standzuhalten. Schließlich drehte er beherzt den
Schlüssel um.
Seine Frau stürzte aus der Wohnküche auf ihn zu.
»Wo bleibst du die ganze Zeit?«
»Aber Poldi, wir hatten doch nur eine kleine Weihnachtsfeier im
Büro.« Immer wenn es für ihn eng wurde, nannte er seine Frau
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