Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
der Staat geerbt, sagte sie, oder vielleicht auch Gräfin Goszinny – sie wusste es nicht genau, aber auf jeden Fall wäre ›ihr Geld‹, wie sie es nannte, sozusagen einem sozialen Zweck zugeflossen.«
»Was für eine Logik!«
»Du sagst es. Apropos, wie bist du eigentlich auf die Lösung gekommen? Als du plötzlich sagtest, du wüsstest, wer sie sei und wo sie ist, klang das auch total logisch. Aber es gab doch gar keine Anhaltspunkte dafür?«
»Eine Gedankenverkettung«, sagte Wolf Gabriel, wobei er sich bemühte, bescheiden zu klingen. Lieber hätte er sich die Zunge abgebissen, als Sandra von seinem Traum zu erzählen. Obwohl man ja immer sagte, dass Träume ihre eigene Logik hätten.
»Die Verbindung war der Name«, sagte er. »Hundinger. Da steckt ›Hund‹ drin. Und mein Hund heißt nun mal Mutter, und deshalb … verstehst du?«
»Kein Wort«, sagte Sandra.
»Ich gebe zu, dass sich das etwas wirr anhört, aber es ist ganz einfach. Sie arbeitet als Bedienung im Hotel Elisabeth, und als sie mir gestern Morgen meine Weißwürste servierte, hatte sie so ein Namensschildchen am Dirndl stecken. Du hättest es auch bemerken können, hast es aber wahrscheinlich genauso wenig wahrgenommen wie ich. Und wir wussten ja zu dem Zeitpunkt auch noch nicht, dass in der Villa Undine ebenfalls ein Herr Hundinger wohnt. Dann wäre man vielleicht schon darauf zu sprechen gekommen. Aber die Information hat in meinem Unterbewusstsein weitergearbeitet. Martin Sonnleitner verdankt Mutter sein Leben, und wir verdanken ihr die Lösung des Falls.«
»Gräfin Goschi hat vorhin einen schönen Satz gesagt: ›Weil Gott nicht überall sein konnte, schuf er die Mutter.‹ Ist wohl ein altes jüdisches Sprichwort. Und ist natürlich auf die menschliche Mutter gemünzt. Aber nun passt es auch auf deinen Hund.«
Wer weiß, was die gute ›Gräfin‹ Goschi zu seinem Traum sagen würde, dachte Gabriel, nachdem er das Telefonat beendet hatte und wieder neben Mutter saß. Sicher etwas wie: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erden …« und so weiter. Wie hatte sie sinngemäß gesagt: »Früher oder später erntet jeder, was er gesät hat«? Nun, er war ein vehementer Gegner der Todesstrafe, und selbstverständlich lehnte er auch Selbstjustiz grundsätzlich ab, insofern würde er nicht so weit gehen und sagen, dass Konrad Bettermann bekommen hatte, was ihm zustand. Aber der Arzt hatte Leid gesät und Rachegelüste geweckt, und infolgedessen war er nicht gerade eines schönen Todes und versöhnt mit sich und der Welt gestorben.
Welch grauenvollen Kreislauf bildete doch das Leben der Menschen! Und was für eine Ernte würde die junge Eva Hundinger eines Tages einfahren? Ihren Vornamen hatte er erst jetzt erfahren, während Frank Bischoff offenbar den Nachnamen seines »Gspusis« nicht gekannt hatte. Tja, dachte Gabriel, zu viel Desinteresse war manchmal gefährlich. Dafür war dieser abgehalfterte Journalist nun selbst zu einem – wenn auch unfreiwilligen – Akteur in einer tollen Geschichte geworden. Wer weiß, vielleicht würde er ja eine Story daraus machen und sie gewinnbringend vermarkten? Eva Hundinger hingegen würde die besten Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbringen. Ein Mord, ein Mordversuch, das war kein Kinderkram mehr, auch wenn sie noch so jung und unschuldig wirkte. Sandra hatte recht, ein trauriger Fall. Freilich kamen lustige Fälle in seinem Beruf auch nicht vor.
Er schaute auf seine Uhr, Viertel nach fünf. Vor sieben, halb acht würde der Hund nicht aufwachen, hatte die Assistenzveterinärin gesagt. Gabriel beschloss, irgendwo eine Kleinigkeit essen zu gehen und bei der Gelegenheit ein Leckerli für Mutter zu kaufen. In den nächsten Tagen würde er sie nach Strich und Faden verwöhnen.
Zum Abschied strich Gabriel seiner Hündin über das Fell, das sonst so weich und jetzt blutig verschmutzt war. Wieder lief ein Zittern durch ihren Körper. Ob die Hündin in ihrer Narkose wohl etwas träumte? Welche Bilder mochte so ein Hundehirn für all die seltsamen Sitten und Gebräuche entwerfen, denen die Menschen so nachgingen, auf welchen Punkt brachte es das, was Menschen einander antaten und was sie trieben? Und hatte Mutter wohl jemals von ihm, ihrem Herrchen, geträumt?
Gabriel beschloss, sie, wenn sie aufwachte, als Erstes da nach zu befragen. Aber egal, wie die Antwort ausfiel: Sie würde ihr Leckerli bekommen.
PHILIP TAMM
Eisige Höhen
Der schmale Gebirgspfad führte an einem idyllischen Bachlauf
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