Mordsee
Nichtprofis?«, unterbrach sie Jung schmunzelnd.
»Nichtprofis japsen nach Luft.«
»Verstehe.«
»Aber das größte Ding kommt noch.« Sie machte eine Pause und sah ihn Aufmerksamkeit heischend an. Jung machte ihr die Freude und fragte: »Was? Nun machen Sie’s nicht so spannend.«
»Okay. Der Park liegt auf einem Hochplateau. Es fällt aus ziemlicher Höhe über eine Felswand steil zum Flussufer ab.«
»Sie meinen den St.-Lorenz-Strom.«
»Ja, natürlich. Was denn sonst. Also, an der Steilküste, genau genommen am Cap-Blanc, das hatte mir ein Mitläufer verraten, gibt es so eine Art Schlucht, durch die eine Holztreppe führt. Über sie kommt man nach unten.«
»Oder nach oben«, schob Jung dazwischen.
»Ja, klar. Die Treppe ist lang, sehr lang.«
»Na und? Was ist daran so toll?«, fragte er ahnungslos.
»Sie hat so viele Stufen, dass ich mit dem Zählen aufgehört habe. Im Laufschritt einmal rauf und runter, und ich weiß genau, was ich drauf hab oder nicht. Ich hab’s geschafft«, triumphierte sie.
»Und jetzt sind Sie stolz auf sich.«
»Ja. Zu Recht. Ich lobe mich ungern selbst. Aber in diesem Fall … !« Sie ließ den Rest in der Schwebe.
»Ich bin kein Läufer. Dennoch: Chapeau!«
»Danke. Sie sollten das auch mal machen. Gehen natürlich. Laufen sollten Sie lieber nicht.«
»Rauf oder runter?«
»Rauf. Ich an Ihrer Stelle … «
»Charlotte, Entschuldigung. Ich sehe gerade die Staatsanwälte am Büffet. Habt ihr was abgemacht?«
»Ja. Ein Fahrer holt uns ab. Um neun geht’s weiter.«
»Wo?«
»Auf dem Schiff.«
Er sah auf die Uhr.
»Es ist kurz vor neun. Die fangen gerade erst an.«
»Ich geh mal rüber und frage.«
Sie erhob sich und verschwand zwischen den Tischen in Richtung Büffet. Jung lehnte sich zurück und starrte uninteressiert in die Runde. Sie hatten sich verquatscht. Dabei wollte er sie eigentlich über den gestrigen Nachmittag ausfragen. Er richtete sich auf. Sie war schon auf dem Weg zurück und setzte sich wieder zu ihm.
»Das Auto kommt eine Stunde später. Sie haben darum gebeten. Es gibt vorher noch Arbeit.«
»Gut. Dann erzählen Sie doch mal, was gestern los war.«
»Okay. Eigentlich nichts Tolles. Ich glaube, die Staatsanwälte sind von einem Unfall überzeugt, an dem keiner Schuld trägt außer das Opfer selbst.«
»Darauf waren Sie selbst auch schon gekommen. Geht es etwas präziser? Wen haben sie befragt? Über was genau?«
»Offiziere und Ausbilder. Die Befragung drehte sich im Wesentlichen darum, ob es Fehler, Pannen, Unaufmerksamkeiten oder Mängel gegeben hat, die eine mögliche Rettung vereitelt haben könnten.«
»Natürlich gab’s keine, vermute ich mal. Die Staatsanwälte waren ja schon vorher überzeugt.«
»Nein, so einfach lief das nicht. Sie sind ein gutes Team, meiner Meinung nach.«
»Was?«, rief Jung verblüfft. »Wieso glauben Sie das, Bakkens?«
»Die Rollenverteilung war perfekt. Er gibt den harten Hund, und sie stellt scheinbar harmlose Fragen. Die Mariner kamen ganz schön ins Schwitzen. Die Stimmung kühlte schnell ab und war am Ende ziemlich gereizt.«
»Warum denn?«
»Die Staatsanwälte ließen erkennen, dass unter Umständen doch noch Anklage erhoben wird.«
»Obwohl sie überzeugt sind, dass kein Fremdverschulden vorliegt?«
»Das ist mein persönlicher Eindruck, ja.«
»Ah, ich verstehe. Und heute machen sie den Schwitzkasten noch einmal auf.«
»Damit rechne ich, ja.«
Jung nickte mehrmals mit dem Kopf. Dann wechselte er abrupt das Thema.
»Haben Sie gestern etwas gelernt?«
»Ja, ich denke schon. Nur, ehrlich gestanden, weiß ich nicht, was das Ganze soll. Es scheint alles klar zu sein.«
»Und sonst?«, bohrte Jung weiter. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Ein Widerspruch, ein verdächtiger Gleichklang in den Aussagen, irgendeine Abnormität oder Ähnliches?«
»Die einzige Abnormität waren die verkrüppelten Finger des Seemanns, der den Kaffee einschenkte. Taubstumm schien er auch noch zu sein.«
Sie lachten.
»Krankheiten, Ihr Hobby. Ich weiß.«
»Ja, ich wusste sogar schon mal den Namen. Vielleicht fällt er mir wieder ein.«
»Okay. Dann wollen wir uns das mal ansehen. Gehen wir.«
*
Der Fahrer war pünktlich. Nach der Begrüßung hatten sich die Staatsanwälte nach Jungs Verbleib erkundigt. Niemand erwartete lange Erklärungen von ihm. Er war froh darüber. Jung musterte die beiden aufmerksam. Halsbenning schien nicht gut geschlafen zu haben. Er sah müde aus und trug einen
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