Mordsee
der Telefondurchwahl. Auf ihrem Zimmer angekommen, beschloss sie, es bei einem leichten Snack aus der Minibar zu belassen und zu versuchen, Jung auf morgen zu vertrösten. Sie griff zum Telefon und musste lange warten.
»Jung«, meldete er sich verschlafen.
»Bakkens. Sie wollten mich sprechen.«
»Wo sind Sie?«
»Im Hotel.«
»Wie spät ist es?«
»Ziemlich spät. Es ist dunkel draußen. Ich bin hundemüde.«
»Sie sind erst jetzt angekommen?«
»Gerade eben. Die Befragungen haben den ganzen Nachmittag und Abend gedauert.«
»Mein Gott, warum haben die es so eilig?«
»Halsbenning will so schnell wie möglich wieder nach Hause. Wo waren Sie denn?«
»Ich bin von der Kontrolle aufgehalten worden. Endlos. Mein Pass hat den Behörden Magenschmerzen bereitet.«
»Ach so«, erwiderte sie uninteressiert. »Es war ein langer Tag. Aber jetzt ist er vorbei.«
»Okay. Sie sind müde. Schlafen Sie erst einmal. Wann geht es weiter?«
»Morgen um neun.«
»Gut, dann treffen wir uns gegen acht beim Frühstück. Sie berichten mir dann.«
»Okay, Chef. Geht in Ordnung. Ich soll Sie übrigens vom Kapitän grüßen. Er scheint Sie von irgendwoher zu kennen.«
»Wie heißt er denn?«
Sie nannte ihm den Namen.
»Ja, den kenn ich. Das letzte Mal war er Kommandant einer Fregatte.«
»Was haben Sie mit ihm zu tun gehabt?«
»Ach Gott. Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie Ihnen vielleicht später mal.«
»Er hat uns zum Mittagessen aufs Schiff eingeladen.«
»Schön. Wir reden morgen weiter. Gute Nacht, Charlotte.«
»Gute Nacht, Chef.«
Ihre Neugier war aufgeflackert, aber schnell wieder erloschen. Nach einer halben Stunde hatte sie sich unter die Bettdecke verkrochen und überließ sich ihrer Müdigkeit.
Der Tag danach
»Guten Morgen, Charlotte.«
»Guten Morgen, Chef.«
Sie sahen sich gegenseitig auf die Frühstücksteller und lachten.
»Wir scheinen den gleichen Geschmack zu haben«, bemerkte Jung amüsiert.
»Für meinen Geschmack gibt’s hier nichts. Außer Obst.«
»Geht mir ähnlich. Pfannkuchen mit Ahornsirup, gebratener Speck, Rührei und Würstchen sind nicht unbedingt das, was ich mir zum Frühstück wünsche. Ich vermisse Joghurt und Müsli.«
»Und ich Hirse- und Buchweizenbrei.«
»Brei? Oh Gott. Klingt krank. Jedenfalls in meinen Ohren.«
»Hirse und Buchweizen sind alles andere als krank«, erwiderte sie emphatisch. »Sie sorgen unter anderem für ein harmonisches Säure-Basen-Verhältnis im Körper. Die Liste der säurebedingten Krankheiten ist lang. Aids, Krebs, Cellulitis … «
»Schon gut«, winkte Jung ab. »Bitte, keine Vorträge auf nüchternen Magen. Ist das ein Hobby von Ihnen?«
»Was meinen Sie? Vorträge halten?«
»Nein«, lachte er. »Gesunde Ernährung.«
»Ja. Für mich sind Sport, Ernährung, Gesundheit beziehungsweise Krankheit sehr wichtig. Man muss seinen Körper pfleglich behandeln, wenn’s einem gut gehen soll. Nicht Kosmetik oder so ’n Kram. Ich fühle mich nur gut, wenn ich auch gut zu meinem Körper bin.«
»Ah, deshalb sehen Sie so gut aus«, bemerkte er amüsiert.
»Ihre Ironie können Sie sich sparen, Chef«, erwiderte sie sachlich.
»Ich meine das nicht ironisch. Sie sehen taufrisch aus, kein bisschen verschlafen. Was nicht verwunderlich wäre.«
»Ich bin vorher joggen gegangen. Danach sehe ich immer so aus«, erklärte sie nüchtern.
»Wie bitte? In dieser Steinwüste? Wann stehen Sie denn auf?«
»Nach Sonnenaufgang. Und Steinwüste ist übertrieben. Würde mich aber auch nicht abhalten. Ich habe schon eine Strecke gefunden.«
»Wie denn, wenn ich fragen darf?«
»Sie dürfen, Chef. Gestern sah ich auf dem Schreibtisch des Kapitäns einen Stapel Flyer liegen: Québec, ville et région. Davon habe ich mir einen genommen.«
Jung zog die Augenbrauen hoch.
»Ich habe ihn vorher gefragt, Chef.«
»Okay. Und?«
»Er enthält einen Stadtplan. Danach bin ich losgetrabt.«
»Ah ja. Und wohin?«
»Gleich rechts aus dem Hotel über die Hauptstraße, dann ein paar Stufen runter in das putzige Wildwestviertel mit den vielen Holzhäusern und weiter in Richtung Fluss.«
»Sie meinen den St.-Lorenz-Strom, richtig?«
»Richtig. Da läuft man fast ohne lästigen Autoverkehr bis zu einer dicken Verkehrsader: Grande Allee est. Habe ich mir genau gemerkt. Dahinter liegt der Parc des Champs-de-Bataille. Einfach ideal. Ich traf dort auf andere Jogger. Man grüßt sich. Profis unterhalten sich auch gern ein bisschen.«
»Und was machen
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