Mordsee
mürrischen Gesichtsausdruck zur Schau, der auf nichts Gutes schließen ließ.
Wie die Staatsanwältin die Nacht zugebracht hatte, vermochte er unter ihrem perfekten Make-up nicht zu beurteilen. Heute trug sie einen halblangen schwarzen Rock, unter dem ein paar stämmige bestrumpfte Beine zu sehen waren. Jungs Blick verweilte länger auf einer Laufmasche oberhalb ihres linken Knöchels. Sie passte nicht in das Bild, das sie bemüht war, von sich zu entwerfen, dachte Jung. Sein Blick erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Sie sah an sich herunter. Jung hatte das sichere Gefühl, als würde sie erröten. Nur ihr Make-up bewahrte sie vor der Entdeckung. Sie wandte sich in einer raschen Bewegung dem wartenden Auto zu.
Die Fahrt war kurz. Die Begrüßung durch die Schiffsführung ebenfalls. Die Staatsanwälte guckten verdutzt, als der Kommandant seiner Freude Ausdruck gab, Jung an Bord zu sehen.
»Wir kennen uns von früher«, bemerkte der Kapitän beiläufig. Halsbenning nickte griesgrämig. Die Riedel tat so, als hätte sie nichts gehört. Jung bedankte sich für die Einladung zum Essen und sie verschoben alles Weitere auf den Mittag.
Die Verhöre wurden in die Suite des Kommandanten verlegt. Der Wohnraum war geräumig und repräsentativ wie auf einer großen Jacht. Dennoch wurde Jung an seine Zeit auf dem Kriegsschiff erinnert. Vielleicht lag es nur an der Person des Kommandanten und der Uniform. Die Staatsanwälte, die Praktikantin und er nahmen an dem großen Tisch Platz. Gegenüber blieb ein Armstuhl frei. Der Kapitän saß an seinem Schreibtisch.
»Wir haben noch Fragen an den verantwortlichen Wachoffizier, Herr Kapitän«, begann Halsbenning. »Würden Sie ihn bitte rufen lassen?«
Während sie warteten, fiel zwischen den Anwesenden kein Wort. Schließlich betrat der Oberleutnant den Raum. Jung schätzte ihn auf Mitte, Ende 20. Er war nicht sehr groß, etwas füllig und erinnerte in seinem marineblauen Arbeitshemd mit aufgekrempelten Ärmeln, abgewetzten Bordhosen und knautschigen Seestiefeln eher an einen Fischdampferkapitän als an einen schneidigen Marineoffizier. Er grüßte kurz und nahm auf dem freien Stuhl Platz.
»Wir haben gestern Ihre Einlassungen zur Sache angehört«, begann Halsbenning. »Ich fasse mal kurz zusammen: Während Sie hinten auf dem Oberdeck vor dem Kartenhaus Wache gingen, hörten Sie vom Vorschiff einen Schrei. Sie wussten, dass die Kadettin dort als Ausguck auf Station war. Sie riefen sie über Sprechfunk an, bekamen aber keine Antwort. Darauf leiteten Sie gemäß Brückenoffizier-Handbuch … Das ist doch so richtig, nicht wahr?«
»Korrekt.«
»… also gemäß Brückenoffizier-Handbuch ein Mann-über-Bord-Manöver ein. Alle nötigen Befehle und Maßnahmen wurden zeitgerecht umgesetzt. Dennoch waren Ihre Bemühungen unzureichend. Die Kadettin konnte nicht gerettet werden. Ist das so richtig wiedergegeben?«
»Im Großen und Ganzen schon. Nur das Wort ›unzureichend‹ ist nicht korrekt. Ich würde sagen, wir haben alles Menschenmögliche … «
»Was menschenmöglich ist oder nicht, beurteilen wir, nicht Sie . Deswegen sind wir hier. Die Kadettin war verschollen. Also reichten die Rettungsmaßnahmen nicht aus. Das ist doch logisch. Stimmen Sie mit mir darin überein?«
»Ja, schon. Aber Sie müssen … «
»Wir müssen gar nichts, Herr Oberleutnant. Kommen wir zum nächsten Punkt. Sie hatten die Verantwortung für das Schiff und seine Besatzung von Mitternacht bis vier Uhr früh. Ist das richtig?«
»Korrekt.«
»Hatten Sie vorher ausreichend Schlaf?«
»Ausreichend Schlaf? Das ist eine gute Frage. Man bekommt … «
»Ich will nicht wissen, was man auf diesem Schiff bekommt oder nicht, sondern ob Sie ausgeschlafen waren, Herr Oberleutnant.«
»Mein Gott, was heißt schon … «
»Herr Oberleutnant, mir scheint, Sie haben den Ernst der Lage nicht begriffen. Es geht hier um ein Menschenleben. Also nochmals: Hatten Sie ausreichend Schlaf?«
»Ja.«
»Das müssen wir überprüfen, Frau Staatsanwältin.« Er blätterte in der Akte und schien nachzudenken. »Noch etwas dazu, Herr Oberleutnant: Waren Sie im Vollbesitz Ihrer Kräfte?«
»Wie meinen Sie das? Was … «
»Der Herr Staatsanwalt meint, ob Sie am Abend zuvor vielleicht mit Ihren Kameraden gemütlich beisammengesessen haben«, mischte sich die Riedel ein. »Treffen dieser Art sind doch nicht verboten, oder?«
»Wenn wir in See stehen, haben wir unsere Aufgaben und Arbeiten. Wir feiern nicht.«
»Erklären
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