Mordsee
Platz und nickten ihm grüßend zu. Jung las in ihren Augen, dass sie zu wissen glaubten, zu wem er gehörte und was er hier zu suchen hatte. Vor dem Kombüsentrakt hockten Matrosen und schälten Kartoffeln in große Eimer. Der Niedergang zum Oberdeck war steil. Auf dem Vorschiff war er allein. Er sah sich um und versuchte sich vorzustellen, wie die Kadettin in der Nacht ihres Todes hier gestanden hatte. Jetzt war es sonnig und warm, das Schiff lag fest an der Pier vertäut, die Segel waren zu faltigen Würsten aufgerollt und die Rahen backgebrasst. Er blickte hoch in den Fockmast. Das baumdicke Stahlrohr hatte eine beängstigende Höhe.
»Ganz schön hoch, was?«
Jung wurde jäh aus seinen Betrachtungen gerissen. Die beiden Techniker aus Kiel kamen nacheinander den Niedergang hoch und gesellten sich zu ihm.
»Ja, gewaltig hoch. Moin, die Herren«, erwiderte Jung.
»45 Meter und 30 Zentimeter über der Konstruktionswasserlinie, um ganz genau zu sein. Moin, Herr Kommissar.«
»Haben Sie das persönlich nachgemessen?«, fragte Jung amüsiert.
»Als Techniker wissen wir das auch so.«
Sie legten die Hände schützend über die Augen und sahen an dem Mast hoch.
»Suchen Sie nach einem geeigneten Platz für Ihre Suchscheinwerfer?«
»Ja. Mal sehen, wo sie nicht stören. Und Sie? Inspizieren Sie den Tatort?«
»Tatort?«, fragte Jung zweifelnd.
»Naja, hier muss es doch irgendwie passiert sein.«
Sie sahen sich suchend auf der Back um.
»Vielleicht ist sie auf dem Poller herumgeturnt. Dann fiel eine Böe ein, sie verlor das Gleichgewicht und schwups ist sie ins Wasser geplumpst.«
»Warum sollte sie da herumturnen?«
»Was weiß man schon, was im Kopf einer Frau vorgeht. Vielleicht wollte sie einen besseren Ausguck, vielleicht ein bisschen Bewegung, mein Gott, es gibt viele Gründe. Nur keinen vernünftigen.« Er zuckte mit den Schultern und zog die Augenbrauen hoch.
»Vielleicht ist sie ja auf dem schrägen Deck ausgerutscht. Wie ist das hier bei Windstärke sieben und zwei Meter Seegang?«
»Wenn sie ins Rutschen kommt, dann doch nicht nach Luv, sondern runter nach Lee.«
»Und der Wind?«
»Sechs bis sieben hat schon was. Die Krängung auch. Haben Sie mal den Kopf aus dem Auto gesteckt, wenn sie um die 50 Sachen drauf haben? Da weht Ihnen das Toupet weg. Hier standen gut 2000 Quadratmeter Segeltuch im Weg. Für einen Sailor ist das purer Spaß an der Freud. Aber für ’ne Frau … «
»… kann es den Tod bedeuten«, ergänzte Jung nachdenklich.
Der Techniker nickte vielsagend.
»Sie scheinen was gegen Frauen zu haben«, bemerkte Jung leichthin.
»Im Allgemeinen nicht. Aber auf See, da gelten andere Gesetze.«
»Was meinen Sie?«
»Wird das jetzt ein Verhör, Herr Kommissar, oder was?«
»Ich mach mich bei einem Experten schlau. Weiter nichts.«
»Nicht, dass mir hinterher ein Strick draus gedreht wird.«
»Versprochen. Ehrenwort.«
»Okay. Also: Die Deern soll nicht sehr groß gewesen sein. Ein Kraftei war sie auch nicht. Und nun sehen Sie sich mal um. Da muss man doch nicht viele Worte machen, oder?«
»Es gibt genug Männer, auf die Ihre Beschreibung auch passen würde.«
»Das Schiff fährt seit 50 Jahren auf allen Weltmeeren spazieren, bei jedem Scheißwetter und die meiste Zeit ohne Frauen. Es hat bisher vier tödliche Unfälle gegeben. Das nur dazu.«
»Sie meinen also, sie hätte lieber an Land bleiben sollen.«
»Aber klar doch! Die Unfälle sind geradezu vorprogrammiert. Das hier ist eine Welt für sich, verstehen Sie?«
Jung schwieg und sah über das Schiff. Schließlich blieb sein Blick an der Mastspitze hängen.
»Ich würde gern mal da hoch.«
»Für Nichtbesatzungsmitglieder verboten. Wegen der Haftpflicht im Fall der Fälle. Fragen Sie den Kommandanten. Für Sie als Kommissar macht er vielleicht ’ne Ausnahme.«
»Noch eine letzte Frage: Glauben Sie, das Schiff hat in der fraglichen Nacht stark geschlingert, gestampft oder gerollt? Ist das Deck nass gewesen?«
»Der Winddruck hält einen Windjammer ziemlich stabil. Bei dem Seegang steigt noch keine Welle ein. Vielleicht Spritzwasser. Aber die segelten ja mehr oder weniger vor dem Wind und nicht gegen an. Das dürfte nicht fürchterlich viel gewesen sein.«
Jung nickte gedankenverloren.
»Vielleicht hatte sie ADHS«, schaltete sich der Jüngere ein. »Die machen Sachen, da fasst sich unsereins nur an den Kopf.«
»ADHS?«, fragte Jung verständnislos.
»Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom. Ich kenne
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