Mordsfreunde
die ihr damals so vertraut gewesen waren, weil man sich dort gut vor den Blicken zufällig vorbeikommender Lehrer verstecken konnte, wenn man die Schule schwänzte. Viele Jahre lang war Pia den Weg von der katholischen Mädchenschule zum Busbahnhof gelaufen, später hatten sie und ihre Freundinnen nach der Schule oder in Freistunden gerne im Park am Luxemburger Schloss, in dem das Amtsgericht untergebracht war, auf den Bänken gesessen, heimlich Zigaretten geraucht und über die ersten Erfahrungen mit Jungs gekichert und getuschelt. Das dreitägige Burgfest im Sommer war das Großereignis gewesen, dem alle Jugendlichen der drei Königsteiner Gymnasien entgegengefiebert hatten. Freundschaften waren in diesen Tagen des Ausnahmezustandes entstanden oder zerbrochen. Pia hob den Kopf und blickte hinauf zu der gewaltigen, scharf gezeichneten Silhouette der Burgruine vor dem goldenen Abendhimmel. Nach dem Abitur hatte sie den Bezug zu Königstein verloren, ihr Lebensmittelpunkt hatte sich woandershin verlagert. Sie hatte lange nicht mehr an ihre Schulzeit gedacht.
Eine Menschentraube wartete in freudiger Erwartung auf das Konzert vor dem Kassenhäuschen direkt am Burgtor. Lukas lehnte an der Burgmauer, die Arme vor der Brust verschränkt, die Haare offen. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine enge, ausgewaschene Jeans, nicht den formlosen Schlabberlook, den die meisten Jungen heutzutage bevorzugten, und blickte suchend in die Menge. Pia lächelte bei dem Gedanken daran, was sie vor fünfundzwanzig Jahren wohl dafür gegeben hätte, mit einem solchen Jungen eine Verabredung zu bekommen. Als er sie nun sah, hob er die Hand. Wenig später stand sie vor ihm, ein wenig atemlos vom steilen Aufstieg.
»Hey, da sind Sie ja«, er musterte sie mit einem anerkennenden Lächeln, und offenbar gefiel ihm, was er sah. »Sie sehen cool aus.«
»Danke«, Pia lächelte erstaunt und ein wenig geschmeichelt. Sie gingen durch die Kasse und ließen die Tickets abreißen.
»Was steht denn da auf deinem T-Shirt?« Pia las den Schriftzug und grinste. »Verführer – na, so was.«
»Das ist ein Gedicht von Hermann Hesse«, erklärte Lukas ernst. »Saltatio Mortis, das ist die eine Gruppe, die heute Abend hier spielt, haben es vertont. Hintendrauf steht der Rest.«
Er drehte sich um und präsentierte ihr seine Rückseite, die nicht weniger ansehnlich war als der Rest von ihm.
»Der Kuss, um den ich innigst mich bemühte, die Nacht, um die ich lang voll Glut geworben, war endlich mein und war gebrochne Blüte«, las Pia. »Das klingt aber traurig.«
»Ist es nicht wirklich oft so«, sagte Lukas, »dass etwas, nach dem man sich gesehnt und auf das man lange gewartet hat, in echt dann nicht so ist, wie man es sich vorgestellt hat?«
»O ja«, stimmte Pia zu. »Die Realität ist meistens enttäuschend.«
»Nicht nur das«, Lukas wirkte plötzlich angespannt, beinahe gequält. »Die Jagd nach etwas, die Vorfreude, das, was man sich vorstellt, ist hundertmal schöner als die Wirklichkeit. Wenn man sein Ziel erreicht hat, stellt man fest, dass es die Anstrengung gar nicht wert war. Was übrig bleibt, ist nur noch ... Leere.«
»Du bist ja ein richtiger Philosoph«, Pia lächelte. Lukas blieb dicht vor ihr stehen. Seine Miene wurde düster.
»Ich sehnte glühend fort mich vom Genuss«, sagte er, ohne den Blick von Pias Augen abzuwenden, »nach Traum, nach Sehnsucht und nach Einsamkeit. O Fluch, dass kein Besitz mich kann beglücken, dass jede Wirklichkeit den Traum vernichtet.«
»Welchen Besitz meinst du?«, fragte Pia. »Materiellen Besitz oder – Liebe?«
Lukas hob die Augenbrauen, dann lächelte er flüchtig.
»Materieller Besitz macht nicht glücklich«, erwiderte er, »das beobachte ich, seitdem ich denken kann. Meine Eltern, die Eltern von meinen Freunden – die meisten von ihnen können sich alles leisten, was man für Geld kaufen kann, und sind trotzdem nicht glücklich.«
»Niemand ist immer glücklich«, sagte Pia. »Das wäre ja nicht zu ertragen.«
Sie schlenderten zur Burgmauer, ließen den Menschenstrom weiterziehen. Pia stemmte ihre Hände auf die bröckelige Mauer und blickte auf die Stadt Königstein hinunter, die von der Abendsonne in ein rosiges Licht getaucht wurde. Schwalben schossen in Pärchen durch die laue Sommerluft, ließen sich auf der Jagd nach Insekten vom Luftstrom treiben, um dann im Sturzflug wieder herabzuschießen. Die Musiker der ersten Gruppe stimmten ihre Instrumente ein, begleitet von frenetischem
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