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Mordsidyll

Mordsidyll

Titel: Mordsidyll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Zandecki
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sich nur in einem schwachen Lichtschein am Horizont. Anna trat ans Fenster und blickte hinaus auf den Stausee der Listertalsperre. Von hier oben hatte man wirklich eine atemberaubende Aussicht! Sie erkannte, dass der Wasserstand der Lister bis an die Krone der Staumauer heranreichte. Auf der anderen Seite der Wand stürzten Wasserfälle durch die Überlauföffnungen herunter in den tiefer liegenden See der Biggetalsperre. Ein schönes Schauspiel, das sich Anna gern ansah.
    Doch daran war heute nicht zu denken, ihre Sorge galt in erster Linie ihren Kühen. Hoffentlich hatte Ronald den Wernike angerufen und die Tiere waren versorgt.
    Nachdem sie sich einen der Bademäntel für Gäste umgeworfen hatte, stieg Anna die Treppe hinunter. Im Kamin glommen noch einige Scheite. Anna legte Holz nach und blies kräftig in Glut. Dann machte sie sich in der Küchenzeile auf die Suche nach Kaffee und Filtertüten.
    Während der Kaffee durchlief, nahm sie eine heiße Dusche, um sich aufzuwärmen. Als sie zurück in den Wohnraum kam, brannte das Feuer mollig warm. Tim saß bereits an dem großen Tisch.
    Â»Guten Morgen, danke für den Kaffee«, begrüßte er Anna. »Möchtest du auch?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und schenkte Anna eine Tasse ein. Mit Schrecken stellte sie fest, dass Tim seine verdreckten Sachen vom Vorabend trug, und sie ebenfalls keine saubere Kleidung zum Wechseln hatte.
    Â»Komm, wir schauen mal, ob Ronald hier etwas zum Anziehen hat«, schlug sie vor. »Vielleicht passt uns ja was.«
    Mit den Kaffeetassen in den Händen gingen sie nach oben in die Schlafräume und durchsuchten die Schränke. Tatsächlich fanden sie zwei verwaschene Jeans, T-Shirts und Pullover, die ihnen zwar nicht ganz passten, aber immerhin sauber waren. Nachdem Tim geduscht hatte, trat er in Ronalds Sachen in den Wohnraum. Anna musste grinsen. Die Hose war zu kurz, dafür schlackerte sie ihm um die Beine und den Bauch. Auch der Sweater sah aus, als ob er ihn zu seiner Konfirmation bekommen hätte. Tims lange Gliedmaßen ragten weit aus den Ärmeln hinaus. Seine dunklen Haare, die strubblig in alle Richtungen abstanden, machten das skurrile Bild perfekt.
    Â»Du siehst auch nicht besser aus«, sagte Tim schmunzelnd, als Anna lauthals lachte.
    Â»Gib mir lieber mal die CD«, forderte er sie auf.
    Â»Was hast du damit vor? Ist sowieso nix drauf«, erwiderte Anna und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
    Â»Keine Musik, aber vielleicht was anderes«, antwortete Tim kryptisch.
    Anna ging ins Bad, wo ihr dreckiger Kittel auf dem Boden lag. Die CD war tatsächlich noch da. War die Aufschrift ›Hits‹ also ein Täuschungsmanöver gewesen?
    Nachdenklich kehrte sie zu Tim zurück. »Auf die Idee, dass es eine Daten-CD ist, hätte ich auch kommen können«, sagte sie.
    Â»Bist du aber nicht. Vielleicht bringt sie uns in der ganzen Geschichte weiter«, erwiderte Tim, steckte die CD in seine Hosentasche und kramte ein paar Münzen aus seiner verdreckten Jeans. »Ich fahre nach Meinerzhagen in ein Internetcafé und schau mal, ob da was drauf ist.«
    Â»Sollen wir das nicht zusammen machen?«
    Â»Lieber nicht. Die sind hinter dir her, Anna. An deiner Stelle würde ich mich hier versteckt halten, bis wir herausgefunden haben, was es mit dieser CD auf sich hat.«
    Anna zögerte. Doch was Tim sagte, war einleuchtend.
    Â»Kann aber dauern«, verabschiedete er sich an der Tür. »Bevor ich in den Knast kam, waren die Busverbindungen in der Gegend furchtbar schlecht. Mal sehen, vielleicht komme ich per Anhalter nach Meinerzhagen.«
    Â»So wie du aussiehst, glaube ich kaum, dass jemand anhält«, rief sie ihm lachend hinterher.
    Anna schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich an den Tisch. Sie hatte das erste Mal seit Tagen ein gutes Gefühl. Sie glaubte daran, dass sich die Dinge aufklären würden und der Albtraum für sie bald ein Ende hätte. Aber sie plagte auch das schlechte Gewissen. Sie hatte Tim für einen skrupellosen Raser und Mörder gehalten – und sich damit all die Jahre getäuscht. Er war ein guter Kerl! Und er trug lediglich eine Teilschuld. Wären nur nicht diese gefälschten Teile im Auto eingebaut gewesen! Hätte, wäre, wenn! Es war ein tragischer Schicksalsschlag. Anna war langsam bereit, dies zu akzeptieren.

    *

    Rustes Schädel

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