Mordskerle (German Edition)
zu nehmen. Dass sie es dennoch wieder und wieder taten, sprach für sie. Bedauerlicherweise machte dieses über sich selbst Hinauswachsen sie nicht stärker, sondern schwächte es sie jeden Tag ein Stückchen mehr, bis sie irgendwann, noch jung an Jahren, daran zu Grunde gingen und resignierten.
Rosie, noch immer von ihrer Statur her ein Mädchen, hatte das Gesicht einer überarbeiteten, alten Frau. Eine Einzelkämpferin, erkannte Lena. Allerdings eine, die für ihren langen, einsamen Kampf nie vom Leben dafür belohnt worden war. Im Gegenteil, es präsentierte ihr immer öfter und in immer kürzeren Zeitabschnitten die Rechnungen für ihren Kampf.
Rosies Sohn Tim war so eine Rechnung, für die sie jetzt bluten sollte, ohne dass sie begriff, wieso. Womit hatte sie das verdient, dass es so weit gekommen war? Rosies Redeschwall schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Irgendwann konnte man sie verbittert und verständnislos zugleich schluchzen hören: „… und dann sagen alle immer, wir sollen uns einen Anwalt suchen, aber den können wir gar nicht bezahlen, so einer ist doch teuer, das weiß man doch aus dem Fernsehen, nicht? Und überhaupt…“
„Ihr Sohn hat das Recht auf einen Anwalt, der Sie im Ernstfall gar nichts kosten würde “, warf Lena sachlich ein, womit sie Annelies feurige Rede gegen die hiesige Polizei und die Behörden mitsamt sämtlicher Staatsgewalt rücksichtslos unterbrach.
Prompt hielt Annelie inne, während Rosie über den Tisch hinweg Lena anstarrte, als hätte sie soeben auf Suaheli mit ihr geredet.
Annelie hielt Stille nicht lange aus. Also rief sie schon, während Lena noch nachdachte: „Na klar, Vale braucht einen Rechtsanwalt. Dass ich daran nicht gleich gedacht habe! Und den kriegt er auch. Den Besten. Den Allerbesten, Rosie.“
Daraufhin breitete sich Schweigen aus. Ein großes, ziemlich lang anhaltendes Schweigen.
„Wann?“ zeigte Lena sich erbarmungslos hartnäckig.
„Morgen“, erwiderte ihre Mutter ohne zu zögern. “Gleich morgen kümmere ich mich darum.“
„Morgen kannst du nicht“, stellte Lena lakonisch fest.
Annelie zwinkerte irritiert. „Wieso nicht?“
Lena gestattete sich ein winziges, aber sehr überlegenes Lächeln.
„Morgen gehst du zu einer Beerdigung. Schon vergessen? Deshalb bin ich auch hier. Um dich an daran zu erinnern, dass Bernhard Beer auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt wird und du zu den geladenen Trauergästen gehörst.“
Es war Annelie anzusehen, dass sie so ein unerfreuliches Ereignis wie eine Beerdigung konsequent verdrängte, kaum, dass sie davon erfahren hatte. Schon legte sie sich eine Hand gegen die Stirn und seufzte: „Ich kann nicht. Ich habe eine Depression. Ich habe immer Depressionen, wenn ich zu Beerdigungen gehen soll. Ich kann das Haus in diesem Zustand nicht verlassen.“
Aber Lena kannte kein Mitgefühl. „Mutter, du musst da hin! Schließlich waren die Beers mal gute Freunde von uns. Ganz zu schweigen von den Geschäften, die Vater und Bernhard Beer früher miteinander gemacht haben. Wenn ich mich recht erinnere, durfte ich ihn sogar Onkel nennen, als ich klein war.“
„Als ob das ein Grund wäre, zu seiner Beerdigung zu erscheinen“, zürnte Annelie, um sogleich listig hinzu zu fügen: „Da du dich dem armen Verstorbenen offenbar sehr verbunden fühlst, könntest du doch…“
„MUTTER!“ Lena sprach dieses Wort in besonders kritischen Augenblicken aus, als hätte es in der Mitte ein halbes Dutzend t´s.
Annelie seufzte. „Es war ja nur eine Idee…“
„Solche Ideen darfst du gerne für dich behalten. Kommen wir noch einmal zurück auf Tim Valendiek. Er braucht also einen Anwalt. Den Besten. Den Allerbesten. Sagst du. Wer soll das sein?“
5. Kapitel
D ie sehr junge, sehr blonde Frau, die schon während der Trauerfeier in der Friedhofskapelle so Herz zerreißend geschluchzt hatte – ihr Schluchzen war wirklich bis in den äußersten Winkel zu hören gewesen! – diese junge Frau fiel später in ihrer großen Trauer beinahe in das offene Grab.
Bestimmt jemand aus Bernhards Familie! dachte Sylvia Herzig, die ebenfalls am Grab stand, sich allerdings die ganze Zeit schon fragte, ob der Platz eigentlich angemessen für sie und vielleicht doch nur ein Irrtum war. Silvia hatte Bernhard Beer nie leiden können, als er noch lebte. Nun, da er tot war, wuchs er ihr auch nicht mehr ans Herz.
Daran änderten selbst die 43 Jahre nichts, die sie ihn in seiner Eigenschaft als Ehemann ihrer besten Freundin
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