Mordskerle (German Edition)
Ewigkeit, hinter den Schrank gerutscht war.
„Liebe Frau Hauser!“, schrieb da jemand sehr schwungvoll. „Sorgen Sie doch bitte dafür, dass das Haus geheizt ist, wenn ich zurückkomme. Sie wissen, wie ungern ich friere. M. Breidbach.“
Nun schlug Lenas Herz erneut bis zum Hals. Die innere Anspannung zerriss sie beinahe. Hastig stopfte sie die Ansichtskarte in ihre Jackentasche, dann schloss sie blitzschnell die Hintertür auf, um durch den Garten davon zu rennen, ohne sich auch nur ein einziges Mal noch umzudrehen. Sie kehrte zurück in die Helligkeit, in ihr Leben.
8. Kapitel
S ie hatte wieder ihren Traum.
Sie sah sich, wie sie ihn umarmte. Sie fühlte ihn sogar durch ihren Schlaf, und als sie ihr Gesicht an seines legte, war seine Haut ganz warm.
Sie hatten sich in den letzten Jahren nie mehr umarmt. Diese Umarmung hatte es so nie gegeben. Doch immer wieder wünschte sie sich, sie hätte den Mut gehabt, ihren erwachsenen Sohn zu umarmen, als er noch lebte.
Immer wieder erinnerte sie sich auch an den Abend, an dem sie ihn zum letzten Mal sah. Bevor er ging, hatte er laute Rockmusik gehört. Freddy Mercury. We are the champions. Er hatte sich zweifellos als Champion gefühlt, sagte sie sich jetzt in der Erinnerung, denn sie hatte ihn singen und pfeifen und mit seinen Schwestern herum albern hören.
Sie hatte ihm auch das Geld gegeben. Fünfzig Euro. Es war ihm anzusehen gewesen, er war es leid, erneut darum zu betteln. Er hatte es satt, sich jedes Mal so zu erniedrigen und seine Mutter um Geld bitten zu müssen.
Bitten, Fragen, Hilfe suchen empfand er als Schwäche, so wie sein Vater es als Schwäche empfand.
Warum dachte sie das jetzt? Warum erinnerte sie sich ausgerechnet jetzt an das eine Mal, da sie sich ihm zugewandt und mit ihrer Hand über seine Wange gestrichen hatte? Das war vor zwei oder drei Jahren gewesen. Sie hatte plötzlich den Wunsch verspürt, ihn zu berühren – und er war ganz schnell weg gerannt, gerade so, als dürfte es diese Berührung von ihr, seiner Mutter, nicht geben.
Ein Junge, der fast schon ein Mann war, ließ sich nicht von seiner Mutter die Wange streicheln.
Seit sie die Nachricht von seinem Tod erhalten hatte, zog es sie wie magisch immer wieder in sein Zimmer, wo sie ganz fest die Tür hinter sich schloss, als ob sie den Schmerz, der, wie sie wusste, ungeheuer sein würde, noch nicht herein lassen, nicht zulassen wollte.
Und dennoch würde sie den Kampf verlieren, denn dieses Gefühl, das sie fast zerriss, würde sie einholen, überholen, um sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr los zu lassen.
Bei ihrem ersten Besuch an seinem Grab war es schon warm, zwar noch nicht ganz Sommer, aber beinahe. Der Wind, der über den Friedhof strich, brachte den Duft von blühendem Weißdorn mit.
Sie stand da, bewegte sich nicht, auch nicht, als die Sonne immer heißer brannte und ihr Gesicht unter dem schwarzen Kopftuch bald durchnässt war von ihrem Schweiß.
Ihr Sohn war tot.
Sein Leben war vorbei. Ein Leben, das nicht einmal zwanzig Jahre gedauert hatte.
Immer wieder stellte sie sich in diesen Tagen die Frage, ob es wohl ein schönes Leben gewesen war. Er hatte nie ein Wort darüber gesagt, und sie, die ihn hätte fragen können, stellte ihm diese Frage nicht, genau wie so viele andere Fragen, die sie an ihn gehabt hätte.
Nun war es zu spät dafür. Es war zu spät für alles.
Seine Stimme war verstummt.
Dort an seinem Grab fragte sie sich verzweifelt, wann sie eigentlich aufgehört hatte, ihn in die Arme zu nehmen. Vielleicht, weil ihr die Antwort darauf fehlte, träumte sie nun fast jede Nacht von der Umarmung, die es niemals gegeben hatte.
Und durch die dünne Wand ihres Schlafes quälte sie die Sehnsucht, mit der sie ihn sich zurück wünschte, um ihn noch ein, nur ein einziges Mal noch zu umarmen.
Als Annelie den Zeigefinger auf den Klingelknopf mit dem Namen „Valendiek“ presste, musste sie lange warten, bis eine Reaktion folgte. „Wer ist da?“, quäkte endlich eine verzerrte Kinderstimme.
Annelie hatte sofort die ungute Ahnung, dass die gesamte Valendiek-Clique oben in der viel zu kleinen Wohnung um das ständig eingeschaltete Fernsehgerät versammelt sein würde. Das machte ihre Mission schwieriger, als sie bis eben noch gemeint hatte.
Sie überwand sich und rief ihren Namen in die Sprechanlage, woraufhin sofort der Türsummer betätigt wurde. Im Treppenhaus schlug ihr der penetrante Geruch von gekochtem Kohl entgegen. Annelie, die seit frühester
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