Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
drang durch ein schmales Fenster auf dem Treppenabsatz. Ihren Pupillen gelang es nicht sofort, sich auf das Dunkel einzustellen. Nahezu blind tastete sie nach dem Geländer, als die Treppe über ihr leise zu knarren begann. Sie verharrte atemlos in ihrer Bewegung. Es kam ihr vor, als glitte ein Schatten am Fenster vorbei, sie wandte sich um, aber da fühlte sie einen heftigen Schmerz an ihrem Schienbein, und während sie noch erschrocken nach Luft rang, stieß etwas Stumpfes, Hartes heftig gegen ihre Brust. Die frisch besohlten Absätze ihrer soliden Trotteurs schrammten über das spiegelblanke Linoleum, sie streckte die Arme aus und griff ins Leere, ihre Aktentasche polterte in das Dunkel hinein. Dieses elende Bohnerwachs, dachte sie, während sie die Treppe hinunterstürzte. Noch im Fallen bemerkte sie die Gestalt im schwachen Gegenlicht des Fensters, und die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Stromstoß. Das letzte, was sie wahrnahm, waren ein Hauch von Parfum und ein jäher grellweißer Schmerz im Nacken.
Als das Telefon klingelte, dachte Paula gerade an Isolde Schönhaar und daß sie sie nächste Woche unbedingt aufsuchen mußte. Der Prozeß rückte näher und näher, und sie durfte keine Chance ungenutzt lassen. Sie würde sich zusammennehmen und diesen Gang nach Canossa antreten, auch wenn sie sich nicht allzuviel davon versprach.
»Darf ich dir zum Frühstück eine Leiche servieren?« tönte Kommissar Jäckles Stimme durch den Hörer.
»Danke. Ich bin nicht hungrig.« Im Laufe der Zeit hatte sich Paula an den Humor der Kripo Maria Bronn gewöhnt.
»Gut«, meinte Jäckle. »Sie ist auch nicht mehr ganz so frisch.«
»Jetzt rede schon«, drängte Paula ungeduldig.
Jäckle nannte ein paar Fakten, und Paula wurde flau. Als er aufgelegt hatte, trat sie ans Fenster, sah hinüber zu dem grauen Haus hinter den zart begrünten Zweigen der Kastanie und atmete befreit auf. Es war ein Gefühl, als tauche sie soeben vom Grund eines kristallklaren Sees auf, sie spürte, wie ihr eine zentnerschwere Last von den Schultern glitt, und konnte ein Lächeln beim besten Willen nicht zurückhalten.
Mühsam unterdrückte sie das Bedürfnis, auf der Stelle Klaus anzurufen, um ihm die Neuigkeit vom Ableben seiner Verbündeten mitzuteilen. Er würde es noch früh genug erfahren.
Bruno Jäckle hatte von einem Treppensturz berichtet, aber Paula wußte es besser: Doris. Der angebliche Zahnarztbesuch. Im nachhinein wurde Paula manches klar: das eindringliche Gespräch zwischen Doris und Lilli über den Gartenzaun, Lillis nahezu lästige Anrufe in den letzten Tagen, ob etwas passiert wäre. Diese Lilli! Behauptete sie nicht immer, man fände die Antwort auf sämtliche Probleme des Lebens in der Literatur, man müsse nur den richtigen Griff tun? Paula mußte unwillkürlich an ein Theaterstück denken, das die Oberstufenschüler des Gymnasiums neulich aufgeführt hatten: Der Richter und sein Henker.
War Doris tatsächlich so berechenbar?
Lange hielt dieses schwebende Gefühl allerdings nicht an. Erste Skrupel meldeten sich und neue Ängste. Doris hat einen Mord begangen, fuhr es Paula durch den Kopf. Sie hat tatsächlich für Simon gemordet. Was wird sie noch alles für ihn tun, was hatte sie bereits getan? Plötzlich war Paula überzeugt, daß Doris auch Max getötet hatte. Es paßte einfach alles zu gut. Die Schönhaar war der Beweis, daß sie dazu fähig war. Und wie sie dazu fähig war! Mit Schaudern erinnerte sich Paula, wie unbefangen, beinahe fröhlich Doris gestern zu Simons Fest zurückgekehrt war. Es war fast dunkel gewesen, Jäckle bereits fort, und die dezent beschwipsten Mütter strebten soeben zurück an den heimischen Herd und Kühlschrank, um den arbeitsmüden Vätern irgend was Vorgekochtes aufzuwärmen und ihre schmutzigen, überdrehten Kinder in die Badewanne und ins Bett zu stecken.
»Bin wieder da, ihr Lieben!« hatte sie gerufen und sich hungrig ein Paar Würstchen einverleibt. Doris und Würstchen! Noch vor Monaten wäre diese Vorstellung so undenkbar gewesen wie ein Papstbild auf einer Kondomreklame.
Karin Braun und ihre Tochter waren etwas länger geblieben, um Paula beim Aufräumen zu helfen. Lilli, ganz typisch, war erst wieder unten erschienen, nachdem die gröbsten Arbeiten erledigt waren. Frisch und ausgeruht hatte sie den jungen Frauen beim Abspülen zugesehen und geseufzt: »Was für ein schöner Geburtstag.«
Kurz vor zwölf verließ Paula ihr Büro, erwischte eine leere Telefonzelle und rief
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