Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
aufzublicken, einen seidenen Kimono.
»Aber Tante Lilli …«
»Mach mit dem Haus, was du willst. Verkauf es, vermiete es, meinetwegen auch die Möbel, ich hänge nicht so sehr an diesen Dingen. Nur die Bücher, die bitte nicht! Wäre schade drum.« Jetzt erst richtete sie sich auf und sah Paula an.
Die begann zu stottern: »Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke klingt ein bißchen banal. Hättest du mich nicht etwas schonender darauf vorbereiten können? Was sagt man, wenn man ein Vermögen geschenkt kriegt?«
»Weiß ich auch nicht, ich hab’s zum Glück geerbt«, grinste Lilli, wurde aber gleich wieder ernst. »Wenn du es mit dem Wegziehen eilig hast, kannst du vorübergehend auch in meine Wohnung ziehen. Für ein paar Monate. Damit du das alte Haus günstig verkaufen und dir in Ruhe was Neues suchen kannst. Wenn man in Zeitdruck ist, ziehen einem die Makler die Hosen aus.«
»Ja, und du?« fragte Paula verblüfft. Jetzt erst wurde ihr klar, daß sie noch gar nicht über Lillis Reise gesprochen hatten. Dem Koffer nach tippte Paula auf eine längere Kreuzfahrt.
Lilli druckste herum und verhedderte sich in einem umfangreichen Wortgestrüpp. Die Quintessenz, die Paula mühsam herausfiltern konnte, war, daß Lilli den Sommer bei Freunden in der Schweiz zu verbringen gedachte, da ihr anscheinend seit kurzem das hiesige Klima nicht mehr bekam. Der Föhn vor allen Dingen.
Paula hegte einen Verdacht: »Ziehst du etwa mit einem Mann zusammen, von dem ich nichts weiß?«
»Ich bin zur Zeit gesundheitlich etwas angegriffen«, gestand Lilli mit strengem Blick, »aber ich bin noch nicht wahnsinnig! Hilf mir mal mit dem Koffer. Es wird Zeit, zum Bahnhof zu fahren.«
Als sie endlich zu dritt auf dem Bahnsteig standen und sich stumm umarmten, sagte Lilli leise: »Paula?«
»Was ist?«
»Wirst du das alleine schaffen?«
»Ja‹‹, sagte sie, »ich schaffe das alleine.«
Als Lilli Simon lange und fest in die Arme schloß, bemerkte Paula verblüfft, daß sie sich hinterher die Augen wischte. Es konnte auch nur ein Staubkorn gewesen sein.
Flieg, Paula
Die Handwerker meinten zuversichtlich, in vier Wochen müßte alles wieder in Ordnung sein. Wie dieser Rohrbruch zustande gekommen war, blieb allerdings ein Rätsel.
Vier Wochen! Paula hörte diese Botschaft mit einem Gefühl, als sei es ihr Todesurteil. Doris’ Anwesenheit im Haus kratzte an ihrem Nervenkostüm wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Ständig lag sie im Kampf mit sich selbst. Auf der einen Seite erschien es ihr verlockend, länger im Büro zu bleiben, andererseits hatte sie kein gutes Gefühl, Doris und Simon allein zu wissen. Doris benahm sich, als sei sie ausschließlich das Kindermädchen für Simon. Nie sah Paula sie an ihrem neuen Buch arbeiten, sie bezweifelte, ob es ein solches Projekt überhaupt gab. Abends pflegte sie es sich mit einem von Lillis Büchern und einem Glas Wein im Sessel vor dem Kamin gemütlich zu machen. Manchmal sah sie auch fern. Sie ging niemals aus, außer zu den nötigsten Theaterproben. Paula gab häufig vor, im Arbeitszimmer zu tun zu haben. Sie kam sich allmählich in ihrem eigenen Haus fremd und überflüssig vor. Auch die Küche hatte Doris schnell erobert. Sie stellte den Speiseplan auf, kaufte ein und kochte, räumte die Schränke zweckmäßiger ein, als Paula es getan hatte, was zur Folge hatte, daß Paula bald nicht mehr wußte, wo was zu finden war. Ein Besucher hätte sicherlich den Eindruck bekommen, Doris sei die Hausherrin und Paula ein Feriengast, der sich schüchtern in den oberen Zimmern herumdrückte. Es kam jedoch kein Besucher. Auch Bruno Jäckle ließ sich nicht sehen.
Ein paarmal war Paula drauf und dran, ihre Koffer zu packen und mit Simon in Lillis Wohnung zu ziehen. Aber die Theaterproben befanden sich in der Endphase, außerdem brachte sie es nicht fertig, Weigand von einem Tag auf den anderen im Stich zu lassen. Wer sollte sich in München um Simon kümmern, wenn sie arbeiten oder zur Probe ging? Nein, sie wollte das Problem nicht überstürzt angehen. Nach Ostern würde sie fristgerecht zum 1. Juni kündigen, mit ihrem Resturlaub wäre sie dann ab Anfang Mai frei, sie könnte gleich nach den Aufführungen umziehen.
Trotz allem Ungemach sah Paula auch einen gewissen Vorteil darin, Doris in allernächster Nähe zu haben: Kontrolle. Zumindest glaubte Paula nur zu gerne daran. Ich stehe das durch, sagte sie sich trotzig. Du kriegst mich nicht klein, Doris Körner. Jetzt, wo
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