Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
war …« Thomas hob bedauernd die Schultern. »Zum Schluß war er wohl wirklich geistig nicht ganz da. Aber das kam einzig und allein vom Suff.«
Er sah, daß seine Schwester mit den Tränen kämpfte. »Paula … es tut mir leid! Ich wußte nicht, daß dir das heute noch so nahegeht.«
»Schon gut. Ich hatte nur vieles davon vergessen«, sagte sie wahrheitsgemäß. Oder vergessen wollen, dachte sie bei sich. Mein Vater, der Märtyrer. Was für ein Trugbild habe ich mir all die Jahre von ihm gemacht.
»Dann hast du’s gut«, murmelte Thomas.
»Was?«
»Wenn du all das so gründlich vergessen konntest, dann sei froh drum. Ich hab’s leider nie gekonnt, es geht mir heute noch nach. Als ich neulich mal meiner Ältesten eine geklebt habe, konnte ich danach drei Nächte nicht schlafen.«
Aber Paula war mit sich beschäftigt. »Ich dachte die ganze Zeit …«, mit einer schlaffen Handbewegung sank sie zurück auf das Sofa, um gleich darauf empört hochzufahren: »Warum hat sie zu mir immer gesagt, ich sei so verrückt wie mein Vater, wo sie doch ganz genau wußte, daß er es nicht war? Wie kann man seinem Kind so etwas antun? Wollte sie sich an mir rächen, weil ich sie nie so geliebt habe wie ihn?«
»Ich glaube eher, es war Gedankenlosigkeit. Sie hat jedem erzählt, ihr Mann sei ›nervenkrank‹, bis sie es selber glaubte. Ich bin sicher, sie glaubt heute noch daran.« Mit einem analytischen Scharfsinn, den Paula ihm gar nicht zugetraut hätte, fügte er hinzu: »Sie hat sich eben auch ein Trugbild von ihm erschaffen, so wie du, über die Jahre.«
Paula nickte nachdenklich. »Ich weiß nicht, warum ich sie nie so lieben konnte wie ihn. Es war einfach so. Ich habe tatsächlich vergessen, was wirklich passiert ist und wie er wirklich war.« Sie nahm einen großen Schluck aus dem Weinglas, das vor ihr auf dem Tisch stand.
»Liebe macht eben doch blind«, sagte Thomas und ähnelte in diesem Moment erschreckend seiner Mutter, die in dieser Situation garantiert einen ähnlichen Gemeinplatz von sich gegeben hätte.
»Aber nur teilweise«, meinte Paula stirnrunzelnd. »Jedenfalls bin ich froh, daß du mir das alles gesagt hast. Mein Gott, ich kann dir gar nicht sagen, wie!«
»Also dann«, sagte Thomas und stand ein wenig abrupt auf, »es ist spät. Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht, Paula.«
»Gute Nacht, Thomas.«
Paula blieb noch fast eine Stunde sitzen. So ähnlich, dachte Paula, muß das Gefühl sein, wenn man nach vielen Jahren aus dem Gefängnis kommt. Aus dem Gefängnis seiner Alpträume, seiner Ängste vor sich selber.
Eine gute Nacht, ja. Dies würde endlich eine gute Nacht werden. Sie wußte nicht mehr, wann sie die letzte wirklich gute Nacht erlebt hatte.
»Interessant«, sagte Bruno Jäckle und köpfte sein Ei mit einem Messerstreich, »und wann ist Vito da wieder rausgekommen?«
Rainer Zolt kratzte sich verlegen sein unrasiertes Kinn. »Also, ich hab’ ihn nicht rauskommen sehen.«
»Was heißt das?«
»Ich bin irgendwann eingeschlafen. Verdammt, sitz du mal die ganze Nacht in einem Auto und glotz auf ein Haus mit verschlossenen Läden!«
»Klingt langweilig.«
»Ich denke, er ist gar nicht wieder rausgekommen, jedenfalls nicht so schnell. Ich konnte nicht den ganzen Sonntagmorgen da stehenbleiben und warten, bis die Herrschaften ausgeschlafen haben. So was fällt in dieser Gegend zu sehr auf. Eine Alte auf dem Weg zur Kirche hat mich schon ganz komisch angestarrt.«
»Kein Wunder, du siehst wie ein Penner aus. Unrasiert, und dazu dieses Auge!«
»Arsch«, murmelte Zolt.
»Ich weiß nicht«, zweifelte Jäckle. »Doris und dieser Vito? Das ist doch nicht ihr Stil, oder?«
Zolt grinste. »Frauen haben oft seltsame Vorlieben.«
Jäckle gab einen knurrenden Laut von sich und verzichtete auf einen Kommentar. Obgleich Zolt ein Hallodri war, war er ein guter Polizist, inoffiziell.
»… hab’s satt, gegen Hauswände und Fensterläden zu starren. Den ganzen Sonntagabend hat sich da drinnen nichts gerührt, außer daß die Körner den Hund zum Pissen rausgeführt hat. Wahrscheinlich nutzen die beiden, daß die Katze aus dem Haus ist, und vögeln Tag und Nacht wie die Steinesel, während ich wie ein Depp im Auto sitze.«
»Kannst du eigentlich auch mal an was anderes denken? Außerdem könnten sie das doch auch drüben, bei der Körner, tun. Das Schlafzimmer ist doch trocken geblieben.«
»Vielleicht legen sie Wert auf das besondere Ambiente. Der Reiz des Verbotenen, du weißt schon.
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