Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
nach ’68. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich auf die Donnerstage gefreut habe. Ich durfte Sekt trinken und blieb auf, bis mir die Augen zufielen, um nur ja nichts zu verpassen. Wenn ich es heute bedenke, war viel hohles Gerede dabei. Jeder inszenierte sich selber, vor allem Lilli, sie hielt regelrecht hof. Inzwischen lacht sie selbst darüber. Aber damals hat mich das fasziniert.«
»Das glaube ich«, nickte Thomas, »bei uns kam überhaupt kein Besuch mehr.« Er sagte das ohne Bitterkeit, aber Paula bedauerte trotzdem ihre hemmungslose Schwärmerei, zu der sie sich hatte hinreißen lassen. Wie taktlos von ihr, wo er doch zur selben Zeit sicher wenig zu lachen gehabt hatte. Eigentlich war es schrecklich ungerecht von Lilli, sich nur mich herauszupicken und schier maßlos zu verwöhnen, während meine Brüder mit meiner Mutter und einer knappen Rente in dem grauen Weddinger Mietsblock versauerten. Ich war Lillis Spielzeug, ein Hündchen, das man sich aus dem Tierheim holt, weil einem sein Näschen gefällt. Bestimmt hat sie nie einen Gedanken daran verschwendet, wie es dem Rest meiner Familie ergeht.
Paula beeilte sich, dem rosaroten Bild, das sie gezeichnet hatte, einen realitätsnahen Grauschleier umzuhängen: »Es gab natürlich Zeiten, da fühlte ich mich sehr einsam. Lilli war oft wochenlang auf Tournee, Maurice war sehr beschäftigt, und ich blieb allein mit dem Hausmädchen zurück, weil ich ja zur Schule mußte. Sie hieß Katja und stammte aus Rußland …«
»Ja – und?« fragte Thomas.
Paula sprach schnell weiter: »Also Katja war aus Rußland, woher, das habe ich vergessen. Sie war ein richtiger Trampel. Nicht nur, daß sie auch nach zehn Jahren Paris so gut wie kein Französisch sprach, sie war auch sonst nicht gerade die Hellste. Es gab niemanden, mit dem man sich unterhalten konnte. Mir war oft sehr langweilig.«
»Hast du manchmal an uns gedacht?«
»Nicht oft«, bekannte Paula ehrlich. »Ich war froh, das alles hinter mir zu haben. Ich habe auch recht bald aufgehört mit dem Schlafwandeln.«
»Ach ja, das Schlafwandeln«, wiederholte Thomas gedehnt.
»Du erinnerst dich noch?« fragte Paula, der plötzlich einfiel, wie jung Thomas damals noch gewesen war. Sie wunderte sich über sein erschrockenes Gesicht bei dieser Frage.
Er brauchte fast eine Minute, ehe er antwortete. »Ich wollte es dir schon immer mal sagen. Es tut mir sehr leid, daß wir dir damals, nach Vaters Tod, diese Streiche gespielt haben. Eigentlich war es ja Bernd, aber ich war schon auch dabei. Ich tat damals alles, was er wollte. Er war mein großes Idol, weil er der Stärkste im Hof war.« Thomas lachte kurz und abfällig. »Jetzt ist er gerade wieder arbeitslos.«
»Streiche?« fragte Paula hellhörig, »was meinst du damit?«
»Na, die Sachen eben, die wir in der Nacht angestellt haben und von denen Bernd dann behauptet hat, du seist es gewesen. Einmal hat er sogar in dein Bett gepinkelt, und du hast dafür von Mama Schläge bekommen, weißt du nicht mehr? Du hast mir so leid getan.«
Paula preßte ihre Hände vors Gesicht. Bilder, hart und scharf wie aus einem Schwarzweißfilm, gerieten in Bewegung. Bilder von zerrissenen, beschmierten Schulheften, Kleidern, die wie Leichen in der Badewanne schwammen, von ausgegrabenen, zerstörten Topfpflanzen und … Sie sah auf, es kostete sie große Konzentration, die Bilder und die Stimme zu verscheuchen. Atemlos flüsterte sie: »Und … der Vogel?«
Thomas fixierte die gekämmten Fransen des Teppichs. »Ja, auch das mit dem Kanarienvogel … das war Bernd. Es sollte so aussehen, als ob du ihm den Kopf abgebissen hättest. Ich war dagegen, ich mochte diesen Vogel auch, und ich wollte es Mama sagen, aber Bernd drohte mir, er würde mich grün und blau prügeln. Also hielt ich den Mund.«
Paula erinnerte sich noch gut an die Schläge und Anschuldigungen ihrer Mutter am nächsten Morgen: »Du bist komplett verrückt! Dich muß man ja nachts anbinden, was wirst du als nächstes anstellen, das ganze Haus anstecken? Heilige Maria, womit habe ich das verdient? Erst dein Vater, und nun du, warum tut man mir das an?«
Paula war, als hörte sie die keifende Stimme noch immer, hier in Thomas’ Wohnzimmer mit den Basttapeten und den Möbeln von der Stange.
Sie hätte ihren Bruder am liebsten gleichzeitig geohrfeigt und geküßt. Sie tat nichts von beidem, sondern fuhr ihn an: »Warum hast du mir das später nie gesagt?«
»Wann, später? Später warst du nicht mehr da«,
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