Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
zählte, daß Paula sich ihrer Tante gegenüber verpflichtet fühlte. Lilli würde es bestimmt nicht schätzen, fremde Leute in ihrem Elternhaus, zwischen ihren Möbeln, für die sie in ihrer Münchner Wohnung keinen Platz fand, zu wissen.
Irgendwie hatte Siggi schon recht, sie war eine Gralshüterin. Paula merkte, wie sie abwesend vor sich hin sinnierte, während sich Siggi und Barbara zunächst über die Vorzüge und Nachteile der Provinz stritten, um sich anschließend in eine Diskussion über Brecht-Stücke zu verkeilen, und Weigand einen leisen Disput mit seiner Frau führte, die nicht sehr glücklich aussah. Doris lauschte amüsiert, wie Siggi und Barbara zunehmend aneinandergerieten. Paula nahm noch einen Schluck Chianti, hörte mal hier und mal da zu, ohne den Sinn der Worte zu erfassen, sie fühlte sich schwerelos. Nach und nach klinkte sie sich aus der Unterhaltung aus, denn die Gesichter am Tisch waren auf einmal nur noch helle Scheiben, wie Lampen hinter Milchglas, während ihr das eigene Gesicht maskenhaft aus der Fensterscheibe entgegenblickte.
In der Hektik der Vorbereitungen hatte Paula es, wie fast jeden Abend, versäumt, die Gardinen ordentlich zuzuziehen, und so wurde ihr Wohnzimmer zur belebten Bühne für ein einsames Publikum.
Gleichsam mit der feuchten Erde verwachsen, stand eine einzelne Silhouette vor dem mondlosen Nachthimmel, und gierige Augen blickten aus dem Dunkel ins Licht, während der erste Frost die feuchtglänzenden Blätter erstarren ließ.
Paula schreckte hoch. Noch während sie erwachte, wußte sie, daß sie wieder von Max geträumt hatte. Denselben Traum wie in den letzten Tagen, diesmal noch deutlicher, fast schon real. Was sie nicht gleich wußte, war, wo sie sich befand. Jedenfalls nicht in ihrem Schlafzimmer. Zögernd richtete sie sich auf, ihr Nacken schmerzte. Sie lag auf einem Sofa. Ihrem Sofa. Asche glimmte im Kamin, die Luft roch abgestanden. Das Zimmer kam ihr fremd vor, vielleicht, weil sie noch nie darin aufgewacht war. Leere Flaschen auf und unter dem Tisch, Gläser zwischen schmutzigen Stoffservietten und bizarr erstarrtem Kerzenwachs. Ihre Armbanduhr zeigte zehn vor acht. Sie trug noch das weinrote, schmal geschnittene Kleid von gestern abend. Weinrot. Wein. Paula stöhnte leise. Dieser elende Rotwein, sie hatte eindeutig zuviel davon erwischt. Wie kam sie auf das Sofa? Hatten die anderen etwas gemerkt und … lieber Himmel. Simon! Sie rappelte sich hoch. Sogar die Schuhe hatte sie noch an, die schwarzen Pumps von gestern. Man kann Gäste schließlich nicht in Hauslatschen empfangen. Aber weshalb hingen Erde und Lärchennadeln an den Sohlen? Sie streifte die Schuhe ab, ihr Kopf drohte zu zerspringen, als sie, für ihren Zustand viel zu rasch, die Treppe hochlief. Auf halbem Weg nach oben hörte sie Musik und Stimmen. Sie atmete erleichtert auf. Simon, dachte sie, du lieber kleiner Kerl. Simon wußte, daß seine Mutter meistens länger schlief als er, deshalb hörte er nach dem Aufwachen erst einmal ein, zwei Kassetten, um danach zögerlich ihr Schlafzimmer zu betreten. Paula wankte ins Bad und duschte lange. Filmriß, dachte sie, als sie kurz danach im Spiegel die bläulichen Schatten unter ihren Augen sah. die leicht konvex gebogene Nase stach noch schärfer als sonst aus dem Gesicht hervor, die Falten um die Mundwinkel schienen sich über Nacht ein ganzes Stück tiefer eingegraben zu haben.
Doppeltes Hupen ertönte von der Straße. Das Zeichen diente bisher dazu, Simon anzuzeigen, daß er mit in den Kindergarten fahren konnte. Die letzte Woche natürlich ausgenommen. Hatte sie etwa gestern, in ihrem Dusel, mit Doris etwas anderes vereinbart? Ein unbehagliches Gefühl, nicht zu wissen, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Paula öffnete das Fenster, ein Badehandtuch um den Körper geknotet, die feuchte Luft legte sich auf ihre Haut wie kalte Finger. Es begann eben wieder zu regnen. Sie rief Doris, die die Scheibe ihres Käfers herunterkurbelte, zu: »Wir haben verschlafen!« Wie fürchterlich sich ihre Stimme anhörte. Die Stimme einer Säuferin. Ekelhaft.
»Hab’s mir beinahe gedacht«, antwortete Doris, auch ihr Ton war etwas angegriffen. »Ich muß mich beeilen. Termin bei Silvano.«
Gerne hätte Paula sie nach den Vorfällen des Abends gefragt. Ob sie sich in irgendeiner Weise daneben benommen und ob Doris sie auf das Sofa verfrachtet hatte. Aber man posaunte solche peinlichen Fragen nicht lautstark in den Morgen hinaus, noch dazu, wo eben der
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