Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
gebrauchen. Und er kann arbeiten, das habe ich gesehen.«
»Mein Gott, Paula!« Doris schüttelte den Kopf, und ihre Augen blickten vorwurfsvoll. »Du bist eine hoffnungslose Sozialromantikerin. Irgendwann wirst du das einmal bereuen.«
Paula wollte eine scharfe Antwort geben, als Hermann Ullrich die Küche betrat und sich verlegen räusperte: »Ich muß mich leider verabschieden, Paula. Es war köstlich, vielen herzlichen Dank. Ich muß mal kurz weg. Die sind wieder nicht in der Lage, ohne mich über eine vernünftige Aufteilung der Spendengelder abzustimmen. Barbara nimmt sich ein Taxi oder fährt mit Siggi. Nochmals vielen Dank.«
Wahrscheinlich hingen ihm bloß die ewigen Theateranekdoten, die man nun zu erzählen begonnen hatte, zum Hals raus, dachte Paula, als sie ihn zur Tür brachte.
Doris stellte die vollen Gläser auf den Tisch. »Ich habe den Chianti aufgemacht, Paula, der Bordeaux wird auf die Dauer zu schwer.«
»Danke«, murmelte Paula, »aber ich wollte eigentlich lieber Wasser.«
»Ein Glas geht schon noch«, antwortete Doris und lächelte ihr aufmunternd zu. Die kleine Diskussion von eben schien völlig vergessen.
»Genau«, ertönte Siggi mit schwerfälligem Zungenschlag, »wer Wasser trinkt, der hat was zu verbergen«, er unterdrückte nachlässig einen Rülpser, »hat schon der alte Baudelaire gewußt. Und der verstand was vom Saufen. ›Berauscht euch ohne Unterlaß …‹ Wie ging’s weiter?« Barbara warf ihm einen abfälligen Blick zu und wandte sich mit einer Armbewegung, die den ganzen Raum umfaßte, an Paula: »Sind das alles Tante Lillis Sachen?«
»Das meiste«, gestand Paula und erinnerte sich, wie Klaus ihr einmal vorgeworfen hatte, sie habe überhaupt keinen eigenen Stil und stülpe sich Lillis Leben über wie einen Hut, der ein paar Nummern zu groß für sie sei. »Sie hat sie aus Frankreich mitgebracht, nach dem Tod ihres Mannes, Maurice. .Die Möbel von ihrem Vater hat sie alle verkauft. War lauter so düsteres, schweres Zeug aus deutscher Eiche. Paßte zu ihm.«
»Eine tolle Frau, deine Tante«, gestand Barbara mit unverhohlener Bewunderung, »und noch so agil. Ich habe sie neulich gesehen, sie sieht noch wahnsinnig gut aus. Sag, stimmt es wirklich, daß der alte Schimmel fast vierzig Jahre lang kein Wort mehr mit Lilli gesprochen hat, bloß weil sie Schauspielerin geworden ist?«
Paula staunte immer wieder, wie hartnäckig diese alte Geschichte immer noch herumgeisterte. Kein Zweifel, Tante Lilli war eine lebende Legende, zumindest hier. Immerhin war das Entstehen der Ziegeleisiedlung erst möglich gewesen, nachdem Lilli den Grund um die stillgelegte Fabrik günstig an die Stadt verkauft hatte.
Doch manchmal war es gar nicht einfach, im Schatten einer Legende zu leben. Paula nickte: »Stimmt. Kein Wort, kein Brief, bis zu seinem Tod. Nicht einmal, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie hat Lilli heimlich unterstützt, die ersten Jahre.«
»Aber wenigstens hat sie ihn beerbt«, bemerkte Siggi trocken.
»Schade, daß sie nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr lange hier gewohnt hat«, meinte Barbara.
»Sie ist ein Großstadtmensch.«
»Und du, Paula«, mischte sich Siggi Fuchs wieder ein, »spielst du hier die Gralshüterin, ja?«
»Sig-gi!« mahnte Barbara.
»So ungefähr«, bestätigte Paula. Die anderen wußten nicht, daß es damals hauptsächlich Klaus gewesen war, der sie gedrängt hatte, Lillis großzügiges Angebot anzunehmen. Um in einem solchen »Landsitz«, wie er es nannte, zu leben, noch dazu mietfrei, nahm er gerne die einstündige Autofahrt nach München in Kauf. Er hatte immer schon einen ausgeprägten Hang zur Sparsamkeit besessen. Paula könne doch ebensogut für den hiesigen Stadtkurier schreiben, anstatt bei der Süddeutschen eine kleine Nummer unter vielen zu sein, fand er. Doch Paula erging es wie Lilli, nach ein paar Monaten hatte sie eigentlich genug vom Landleben. Aber dann wurde sie völlig unerwartet schwanger, und alles wurde anders.
»Für Simon ist es hier besser als in der stinkigen Großstadt«, wiederholte Paula ihre damaligen Worte. Dasselbe hatte auch Klaus behauptet und war seinerseits immer öfter und länger in der stinkigen Großstadt geblieben, besonders am Abend. Inzwischen war es so, daß Paula hier gar nicht mehr weg konnte. Zum einen waren es finanzielle Zwänge. Woher sollte sie die Miete für eine Stadtwohnung nehmen? Außerdem würde sie nirgends so leicht eine Teilzeitstelle als Redakteurin finden. Aber am meisten
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