Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Schultern und schwieg, Jäckle beantwortete seine Frage selber: »Weil sie ein lückenloses Alibi braucht! Deshalb hing sie den ganzen Vormittag beim Friseur herum. Der Maestro hat mir erklärt, sie wollte allen möglichen Firlefanz gemacht haben. Sie wollte Zeit schinden.«
»Vielleicht war es Jürgen?« platzte Paula heraus.
»Das ist unlogisch. Was sollte er für einen Grund haben?«
»Max hat seine Ehe zerstört«, murmelte Paula. »Ist das kein Grund?« Was mache ich da, fragte sie sich entsetzt, aber Jäckle sprang darauf nicht an.
»Jürgen Körner hat kein Motiv mehr. Er hat sich bereits abgeseilt. Er hatte die Möglichkeit, Max aus dem Weg zu gehen. Jeder hatte die. Nur seine Mutter nicht.«
»Weißt du«, hörte Paula eine fremde Stimme flüstern, die sie erschrocken als die ihre erkannte, »wenn Doris es wirklich getan hat – ich könnte es verstehen. Du kanntest Max nicht. Du hast nie erlebt, wie er war, wenn er seine Zornanfälle bekam. Er schlug, biß, warf Sachen, aber das war nicht alles. Er prügelte sich nicht einfach so mit Kindern. Er sah sich zuerst um, ob ihn ein Erwachsener beobachtete, und dann schlug er zu oder zerstörte ihnen ihr Spielzeug, völlig ohne Anlaß.« Sie holte tief Atem und fuhr fort: »Glaub mir, Jäckle, ich war immer der Überzeugung, daß der Mensch ein Produkt seiner Umwelt ist.« Sie lachte kurz auf. »Deshalb nennt Doris mich eine Sozialromantikerin. Ich glaubte immer, daß es lediglich enttäuschte, gleichgültige, verdorbene, vielleicht auch boshafte Menschen gibt, aber keine von Natur aus bösen. Man wird nicht mit Bosheit geboren, so wie mit der Anlage zu großen Füßen. Das dachte ich, bis ich Max erlebte. Max war …«, Paula fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß, aber sie konnte nicht aufhören zu reden, »… einfach böse. Von Grund auf böse. Du hättest manchmal seine Augen sehen sollen.«
Jäckle sagte nichts dazu, er unterdrückte ein Grinsen. In gewissen Punkten waren sich Annemarie Brettschneider und Paula Nickel also gar nicht so uneins.
Paula nahm einen Schluck Wein und fuhr fort: »Doris und Jürgen haben sich so gefreut, als sie endlich schwanger war. Es war eine entsetzliche Schwangerschaft, von Anfang an. Doris war fast fünf Monate im Krankenhaus. Sie lag da, angeschlossen an einen Tropf, durfte nicht mal aufs Klo gehen, und ihr war ununterbrochen übel. Ich hätte das nie durchgestanden. Sogar Jürgen und die Ärzte sagten, sie solle aufstehen und der Natur ihren Lauf lassen, so oder so. Aber Doris hielt durch. Sie wünschte sich so sehr ein Kind. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, auf Jürgen und die Ärzte zu hören. Ich meine, man sagt doch, daß manche Fehlgeburten deshalb stattfinden, weil das Kind mißgebildet gewesen wäre. Und Max war in gewissem Sinne mißgebildet. Nicht körperlich oder geistig, im Gegenteil, er war hübsch und für sein Alter recht intelligent. Aber er war verhaltensgestört, ein Soziopath, von Anfang an. Schon als Baby hat er seine Eltern tyrannisiert, er schlief nie länger als zwei Stunden, brüllte stundenlang, einfach so. Aber das Schlimmste war: Er hat nie gelächelt.« Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und mußte unvermittelt grinsen. »Das war die Zeit, als ich schwanger war. Was hatte ich für eine Angst, daß mein Kind ähnlich wird. Ich zählte die Tage bis zur Geburt und dachte: Von da an wird dein Leben ruiniert sein. Ich konnte es anfangs gar nicht fassen, daß Simon so zufrieden war, kaum schrie und sechs, acht Stunden durchschlief. Ich rannte mitten in der Nacht ans Bett, um nachzusehen, ob er noch lebte.«
»Das mit anzusehen, muß für Doris recht hart gewesen sein.«
Paula nickte stumm. »Sie hat das mit Max nie wahrhaben wollen. Redete immer von schwierigen Phasen. Sie sah sich immer diese Musterfamilien im Werbefernsehen an, die netten, gepflegten Mammis und diese vorwitzigen kleinen Racker, die man mit einem Schokoriegel gebändigt kriegt. So sollte ihre Familie auch sein. Aber Max war nicht so, ganz und gar nicht. Die anderen Mütter …«, Paula stockte und überlegte einen Moment. »Doris war mal eine der beliebtesten Frauen hier in der Siedlung. Das heißt, sie ist es noch. Aber dank Max kapselten sich alle von ihr ab. Mit ihm zusammen wurde sie nie mehr eingeladen, und das kann ich den Leuten nicht mal verübeln. Doris stand immer gerne im Mittelpunkt, aber auf einmal stand sie im Abseits. Dann ging auch noch Jürgen, und dann …«
»Und
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