Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Verbrecherin hat er mich behandelt, mich, die Mutter eines toten Kindes! Wieder und wieder mußte ich schildern, wie Max verschwunden ist, was er anhatte, und so weiter. Dabei ist das sinnlos, man hat keine Kleider bei der … bei Max gefunden. Wehe, irgendeine Kleinigkeit war nur eine Spur anders, als ich es vor zwei Monaten angegeben hatte. Stundenlang ist er drauf rumgeritten. An manches kann ich mich eben nicht mehr genau erinnern. Ist das ein Wunder, bei der Aufregung? Paula, kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn dein Simon plötzlich verschwindet? Denkst du, daß du dann noch fähig bist, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen?«
»Nein«, murmelte Paula.
»Der Kerl ist ein Sadist, ein Frauenhasser, der es noch dazu auf mich abgesehen hat.«
»Das finde ich nicht«, wandte Paula ein. »Er hätte dich auch länger dabehalten können. So wie Kol… den Bosenkow, damals.« Kolja, dachte Paula und spürte, wie eine heiße Welle durch ihren Körper ging. Sie hatte ihn seit dem bewußten Tag nicht mehr gesehen.
»Bosenkow«, fauchte Doris, »den Anschlag auf ihn wollte er mir allen Ernstes auch noch in die Schuhe schieben. So eine Art Bachmeier-Story wollte er draus machen. Nur weil ich zur Tatzeit allein zu Hause war. Was kann ich dafür, daß ich niemanden mehr habe!«
Eine deutliche Anklage schwang in den letzten Worten mit, und Paula wurde klar, worum es eigentlich ging: Paula hatte Doris am Morgen eröffnet, daß sie die Weihnachtstage bei Tante Lilli in München verbringen würde, und Doris hatte enttäuscht gefragt: »Findest du nicht, daß ein Kind Heiligabend nach Hause gehört?«
Paula hatte darüber nachgedacht. Sie mußte Doris einesteils recht geben. Weihnachten feierte man daheim. Aber sie hatte immer mit Lilli zusammen gefeiert und wollte das auch dieses Jahr tun. Andererseits wußte sie, daß Lilli Doris nicht besonders mochte; deshalb wollte sie nicht beide zu sich nach Hause bitten, und um eine Einladung von Doris wäre sie unmöglich herumgekommen.
»Wann erwartet man denn die Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin?« lenkte Paula ab.
»Erst nach Weihnachten. Sie haben’s anscheinend nicht eilig.«
Weihnachten. Alles schien um dieses leidige Thema zu kreisen. Was würde er wohl an Weihnachten machen? Bei seiner Mutter in der mit Kitsch vollgestopften Hochhauswohnung sitzen?
»Es bleibt also dabei, daß ihr morgen zu Lilli fahrt?« stellte Doris die gefürchtete Frage.
Die Antwort fiel Paula schwer: »Ja, Doris. Tut mir leid.« Warum entschuldige ich mich bei ihr? In letzter Zeit hatte ich selber wenig von Simon. Doris holte ihn neuerdings nicht nur vom Kindergarten ab, sondern brachte ihn morgens auch hin, damit Paula frühzeitig in der Redaktion sein konnte. Am Nachmittag blieb Simon bei Doris. Sie hatte sämtliche Spielsachen von Max behalten, und natürlich gefiel es Simon bei ihr, denn dort durfte er beinahe alles. Doris nahm sich mehr Zeit für ihn, als es Paula je möglich war. Täglich erzählte sie ihm neue Geschichten und ging auf jede seiner Ideen begeistert ein, auch wenn sie noch so verrückt war. Sie fuhr mit ihm nach München, ins Kindertheater oder in den Zoo, worüber Paula froh war, denn sie selbst konnte den Anblick eingesperrter Tiere nicht ertragen. Genau betrachtet war Paula kaum noch allein mit ihrem Sohn. Sie hätte nicht sagen können, welche Bücher ihn zur Zeit interessierten und wie er die Nachmittage bei Doris verbrachte, womit er spielte, was er gerade am liebsten aß oder welche Probleme es im Kindergarten gab. Er schwärmte vom Kindertheater und war enttäuscht, wenn Paula die Figuren nicht kannte. Er sprach von Geschichten, die Paula noch nie gehört hatte, weil nur Doris und Simon sie kannten. Ich bin nur noch eine Wochenend-Mutter, und selbst das nicht immer, warf sich Paula vor. Aber schließlich tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß das alles ja nur vorübergehend war. Bis Weigand aus dem Krankenhaus entlassen wird. Das allerdings konnte dauern. Noch immer schmorte ihr Chef in seinem Streckverband im eigenen Saft.
Trotzdem tat ihr Doris in diesem Moment leid, wie sie so versunken dasaß und vor sich hin starrte.
»Wie lange bleibt ihr?«
»Ich weiß noch nicht«, antwortete Paula. »Ein paar Tage.«
Doris stand auf. »Ich geh’ jetzt rüber. Du hast sicher noch zu packen.«
»Sicher«, sagte Paula. »Bis morgen.« Sie fühlte sich schlecht und schuldig, wagte nicht zu fragen, wie Doris die Weihnachtstage verbringen würde. Blieb sie am
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