Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
lange, soll ich dir suchen …«, sie stutzte, als sie Paula ansah. »Was ist denn los?«
Paula schluckte erleichtert. Wie gut, daß sie endlich da war. Sie gab Doris eine knappe Erklärung, und zusammen gingen sie die Stufen hinauf. Vito lag noch immer da, halb unter dem Tisch, so wie er gestürzt war.
»Steh auf!« herrschte ihn Paula an. »Los, steh auf. Denk nicht, daß ich dir auch noch helfe.«
Keine Antwort. Der Schatten des Tisches machte es unmöglich, seine Gesichtszüge zu erkennen. Paula wagte nicht, zu ihm hinzugehen, sie vermutete einen seiner fiesen Tricks. Sie rief eine Spur freundlicher: »He, du kannst aufstehen. Die Vorstellung ist zu Ende!«
Doris drängelte sich an Paula vorbei und beugte sich zu Vito hinunter. Paula verspürte auf einmal ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie konnte nur Doris’ Rücken erkennen, als die sich an Vito zu schaffen machte.
»Was … was ist mit ihm?«
Doris drehte sich um. »Er ist tot, Paula.«
»Was?«
Doris war aufgestanden. Vito lag da, die Augen fast geschlossen, den Mund halb offen, und jetzt erkannte Paula die dunkle, im schwachen Licht feucht glitzernde Flüssigkeit, die unter seinem linken Ohr auf den Holzboden floß. Blut. Das Blut, das Holz, das es aufsaugen würde wie ein Schwamm … Wie der Hamster, schoß es Paula in diesem Moment durch den Kopf. Er ist so tot wie der Hamster. Sie brachte es nicht fertig, ihn anzufassen. Ein kaltes, bodenloses Grauen legte sich auf sie, ein großer, schwerer Stein. Sie spürte Doris’ Hände an ihren Schultern, die sie umdrehten und von Vito wegzogen. Wie ferngesteuert folgte sie ihr in den Probenraum.
»Wir müssen einen Krankenwagen rufen«, rief Paula in plötzlich aufflammender Panik. »vielleicht irrst du dich!« Sie wollte zum Ausgang stürzen, aber Doris’ Stimme rief sie zurück.
»Warte! Ich irre mich nicht. Er ist tot. Er muß gegen die Tischkante gefallen sein.«
»Dann … dann müssen wir die Polizei rufen.« Paula konnte es noch immer nicht glauben, sie erwartete, jeden Augenblick müsse Vito im Türrahmen erscheinen, eine blöde Bemerkung auf den Lippen.
»Moment mal«, bat Doris und hob beschwörend ihre Hände. »Laß mich eine Sekunde nachdenken. Sei einen Augenblick still und laß mich überlegen. Und mach die Tür zu.« Paula war sich nicht sicher, welche sie meinte, aber sie schloß die Tür, die vom Probenraum nach draußen führte. Dann blieb sie hilflos stehen und beobachtete verdutzt, wie Doris sich auf einen Stuhl setzte, die Fingerspitzen konzentriert gegen die Schläfen preßte, als wolle sie gleich ihr autogenes Training beginnen. Nach ein paar zähen Sekunden hob sie den Kopf und sagte: »Du kannst nicht zur Polizei gehen.«
»Aber Doris! Es war Notwehr, er wollte … wollte …«
»Ist mir schon klar, was der wollte«, nickte Doris, »aber die ganze Truppe hat vorhin gehört, wie du ihm gedroht hast, ihn umzubringen.«
»Was? Das habe ich nicht! Jedenfalls nicht so gemeint.«
Paula wußte tatsächlich nicht mehr genau, was sie gesagt hatte, aber das spielte auch keine so große Rolle. Doris sprach ihren Gedanken aus: »Das zählt nicht, wie du das gemeint hast. Was zählt, ist, daß der Mistkerl tot ist, nachdem du dich mit ihm gestritten und ihn bedroht hast. Es ist fraglich, ob dir die Polizei Notwehr abkauft.«
»Aber es war …«
»Und selbst wenn«, unterbrach Doris und sah sie eindringlich an, »selbst wenn sie dir glauben, dann ist da immer noch das Jugendamt.«
Das Jugendamt. Der Brief. Der Prozeß. Sie würden ihr Simon wegnehmen. Allein ihr Name im Zusammenhang mit einem Tötungsdelikt, das würde der Schönhaar vollauf genügen. Schlaff ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, Angst flackerte in ihren Augen. »Doris, was soll ich jetzt bloß machen?«
»Jetzt beruhige dich erst mal«, sagte Doris, und ihre Besonnenheit wirkte tatsächlich beruhigend auf Paula. Doris schien zu wissen, was zu tun war, denn sie entwickelte sofort einen Plan: »Wir fahren jetzt nach Hause, und du schickst Katharina heim, ganz normal. Laß dir bloß nichts anmerken.« Paula nickte. »Eins ist sicher«, erklärte Doris weiter, »wir können ihn nicht hier lassen. Der Verdacht würde sofort auf dich fallen, und wie ich dich kenne, sei mir nicht böse, aber einem verschärften Polizeiverhör hältst du nicht stand.« Da mochte Doris recht haben. Sie hatte ja in letzter Zeit genug Erfahrungen gesammelt.
»Wir schaffen ihn hier weg und lassen ihn irgendwo verschwinden. Man wird ihn
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