Mordsmöwen
Vogelkoje, weil Fietje da auch hinfährt.«
Grey flattert uns maulend hinterher und beschwert sich lautstark, dass wir Erwachsenen ruhig auch einmal auf ihn hören könnten.
Wir fliegen an der Keitumer Kirche vorbei, weiter die Straße am Watt entlang bis zum Hafen von Munkmarsch, wo ich einen verbotenen Moment lang überlege, mich auf einen der Fischteller zu stürzen, die uns da auf der Terrasse des besten Restaurants am Platze von den Touristen geradezu feilgeboten werden. Ich verkneife mir schweren Herzens die Einladung, und es geht weiter auf das weiße Kliff von Braderup zu, vor dem die Straße einen Bogen macht und sich gabelt.
Grey bleibt in der Luft stehen. »Ich sage es euch noch einmal, Fietje ist nicht geradeaus zur Vogelkoje gefahren. Ich denke, der ist hier Richtung Wenningstedt abgebogen.«
»Du denkst?«, fragt Harry amüsiert. »Das wäre ja ein ganz neuer Wesenszug an dir.«
»Ach, macht doch, was ihr wollt. Ihr könnt ja zur Vogelkoje fliegen. Ich kreise einmal über Wenningstedt. Ihr werdet schon sehen, wer recht hat. Wir treffen uns dann in Kampen, ihr kommt von Norden, ich von Süden.« Grey schwenkt links ein, ohne die Antwort seines Vaters abzuwarten.
Ich sehe Harry skeptisch an, doch der bleibt besonnen. »Lass ihn mal machen. Ich habe immer recht. Regel Nummer eins.«
»Regel Nummer zwei«, brummt Harry, als wir von der Vogelkoje zurück in Richtung Kampen fliegen. »Sollte ich einmal nicht recht haben, tritt Regel Nummer eins in Kraft.«
Das Versteck war leer, kein Gangster in Sicht. Dieser verdammte Fietje kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.
Hat er auch nicht. Ortseingang Kampen kommt er uns auf der Hauptstraße mit seinem Roller entgegen, dicht gefolgt von Grey. Völlig außer Atem schreit der uns zu: »Ich habe Fietje in Wenningstedt entdeckt, beim Dorfteich. Gerade, als er wieder auf seinen Roller gestiegen ist.«
Wahrscheinlich hat er den Schmuck in dem kleinen und einzigen Süßwassersee auf der Insel versenkt, schlussfolgere ich. In der Dämmerung gut möglich, ohne dass es jemandem auffällt. Von Weitem würde ein über das Ufer gebeugter Mann jedenfalls so aussehen, als würde er die Enten füttern. Und jetzt will Fietje wahrscheinlich in die Whiskeymeile abbiegen, um sich dort mit seinem Komplizen zu treffen.
»Den schnapp ich mir, bevor er dem Pizzabäcker auch nur Hallo sagen kann!«, rufe ich und fliege ihm auf der breiten Hauptstraße entgegen. Ich schaue in Fietjes ungläubig aufgerissene Augen. Nein, mein Freund, du bist nicht im falschen Film gelandet. Ahoi wird dir jetzt zeigen, wozu Möwen in der Lage sind.
Landung auf dem Helm. Perfekt. Autos hupen, wir haben die Kreuzung fast erreicht – da sehe ich eine Möwe auf dem Gehsteig und traue meinen Augen kaum. Suzette. Sie flaniert an den Geschäften entlang und schaut sich die Auslagen der Modeboutiquen an. Vor einem goldgerahmten Schaufenster bleibt sie stehen. Sonnenbrillen. Und sie ist allein.
»Suzette!«, schreie ich gegen den Fahrtwind und den Lärm der Blechvögel an. »Suzette!«
Ein Ruck geht durch ihren Körper, und sie dreht sich um. Sie sieht mich. Ja, sie sieht mich! Ein kurzes Aufleuchten in ihren Augen, ein erstaunter Blick, dann lächelt sie. Ja, sie lächelt!
»Suzette! Ich habe ein Geschenk für dich!« Ich reiße mir die Sonnenbrille vom Gesicht und schwenke sie im Flügel. »Für dich!«
Vielleicht hätte ich Fietjes Helm besser nicht loslassen sollen, vielleicht ist auch die rote Ampel schuld, jedenfalls werde ich durch Fietjes unerwartete Vollbremsung wie ein Federball abgeschossen und fliege quer über die Kreuzung auf Suzette zu. Ich versuche noch zu lächeln, so zu tun, als sei das Teil meines Eroberungsplans, ein beeindruckender Stunt – der an der Schaufensterscheibe endet. Dort klebe ich jetzt wie ein Abziehbild und rutsche mit eingemeißeltem Lächeln langsam nach unten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Harry mit seinem Sohn Fietjes Verfolgung aufnimmt. Ich bleibe vor Suzettes Füßen liegen, neben mir die zerbrochene Sonnenbrille. Ich könnte heulen, bleibe aber tapfer und stehe auf, auch wenn mir jede Feder einzeln wehtut.
»Große Güte, Ahoi! Hast du dir wehgetan? Ist der Flügel gebrochen?« Vorsichtig tastet sie meinen Flügel ab; die zärtlichen Stupser mit ihrem Schnabel treiben mich schier in den Wahnsinn. Ja, denke ich. Ich habe mir alles gebrochen, was man sich als Möwe brechen kann – wenn sie mich nur weiter untersucht. Eine Gehirnerschütterung
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