Mordsmöwen
»Dem heiligen Albatros sei Dank, es funktioniert noch.«
»Balthasar, du hast echt nicht mehr alle Federn am Flügel.« Ich verdrehe die Augen.
»Ich weiß. Und genau deshalb werde ich jetzt gleich mal diese Äbb suchen und installieren, damit mir so was nicht noch mal passiert.«
»Was für eine Äbb?«
Balthasar tippt auf dem mittlerweile schon regennassen Display herum. »Kennst du die nicht? Die muss man unbedingt haben. Ah, da hab ich sie ja schon. Mobile Blitzer-Warnung. Reden die Menschen ständig von. Muss ich mir gleich installieren.«
»Los jetzt«, ruft Harry. »Wir müssen uns beeilen. Bei dem Wetter ist es lebensgefährlich, wenn mein Sohn auf dem Dorfteich schwimmt. So selten, wie wir hier auf der Insel Gewitter haben, hat Grey meine Warnung sicher nicht mehr im Kopf.«
Während sich das Morgenlicht durch den Regen kämpft und es zunehmend heller wird, fliegen wir die Nordroute entlang. Wenn es nicht so regnen würde, könnten wir jetzt eigentlich schon Wenningstedt vor uns sehen. Der Ort liegt nur einen Flügelschlag von Westerland entfernt und ist für viele zu Unrecht ein unbedeutendes Stiefkind, ein Ort, den man nur deshalb wahrnimmt, weil die Hauptstraße von Westerland nach Kampen zwangsläufig durch ihn hindurchführt.
Unser Scheff kneift die Augen zusammen. Unvermittelt ertönt sein Befehl: »Aufsteigen. Sofort in höhere Luftschicht aufsteigen! Da vorne ist eine begrünte Düne vom Himmel gefallen!«
Vor Erstaunen vergesse ich sogar, mit den Flügeln zu schlagen. »Eine was?« Ich versuche zu ermitteln, was unseren Scheff so in Aufregung versetzt hat – und es wird mir schnell klar. »Scheff, das ist keine Düne, das ist das Gebäude vom neuen Fischtempel. Das Dach hat die Form einer Welle, auf der Gras wächst.«
»Lass deine Scherze, Ahoi, und sieh zu, dass du Höhenmeter unter deinen Rumpf bekommst. Neuer Fischtempel … Du hast wohl schon Halluzinationen vor lauter Hunger.«
»Neu?«, mischt sich jetzt Harry ein. »Das heißt, die Revierverhältnisse sind noch nicht geklärt?«
Ich versuche, mir einen Überblick zu verschaffen. Über dem Gebäude kreisen bestimmt zwanzig Möwen, augenscheinlich unterteilt in verschiedene Banden, deren Scheffs sofort Protest erheben, sobald eine Möwe auch nur mit der Flügelspitze den Luftraum des Gegners berührt. »So wie die sich gegenseitig angoschen, vermutlich nicht. Die sind wohl noch dabei, die Hoheitsgebiete im Luftraum zu klären.«
Die Möwenkinder rutschen, davon unbeeindruckt, das geschwungene Dach hinunter und nutzen den unteren Bogen wie eine Schanze, um sich wieder in die Luft zu katapultieren. Das könnte Grey auch gefallen, aber er ist nicht unter ihnen.
»Hm«, macht Harry, »das sind zwei größere und eine kleinere Bande, wenn ich das recht überblicke … Ich denke mal, die schwächere Gruppe würde sich über Verstärkung freuen. Aber jetzt muss ich erst mal meinen Sohn auftreiben.«
Mir wird wegen Harrys Bemerkungen ziemlich flau im Magen. Denkt er an ein neues Revier für die Bande oder den Ausstieg für sich und Grey? Zweifelnd suche ich Blickkontakt zu unserem Scheff, was der von der Sache hält.
Baron Silver de Luft breitet die Schwingen aus und geht in den Gleitflug über. »Eure blühende Phantasie möchte ich haben. Da vorne ist nichts weiter als eine Gruppe von Möwen, die sich fragt, wie diese Düne wohl vom Himmel gefallen sein könnte. Und jetzt fliegen wir zum Dorfteich weiter.«
Nimmt der Scheff eigentlich gar nichts mehr wahr, ist der nun auch noch blind für die Stimmung innerhalb der Gruppe? Meinetwegen, dann soll er die Tendenzen erst mal ignorieren, aber er sollte nicht aufs weite Meer hinausfliegen. »Ähm, Scheff, das ist die falsche Richtung, linker Flügel ist nur die Nordsee. Bitte weiter nordöstlichen Kurs.«
»Tatsächlich? Bei dem Regen sieht man aber auch wirklich nichts.«
Der Dorfteich liegt, gut versteckt von einer Baumreihe, neben der Friesenkapelle. Die Wasseroberfläche zittert unter den Regentropfen, und wir kreisen mehrmals über dem Gewässer. Nichts, keine Spur von Grey. Wir setzen uns auf die Brüstung des Stegs, der fast bis zur Mitte des Sees reicht und Übersicht bietet. Keiner will aussprechen, was alle denken.
Noch nie habe ich Harry so verzweifelt gesehen. Diese imposante Möwe lässt ihre Flügel enormen Ausmaßes nunmehr kraftlos hängen, und wenn es nicht so stark regnen würde, könnte ich mit Sicherheit sagen, dass er Tränen in den Augen hat.
»Ihm wird schon
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