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Mordsmöwen

Mordsmöwen

Titel: Mordsmöwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sine Beerwald
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nichts passiert sein«, sage ich. »Dein Sohn ist clever. Er hat sicher irgendwo Unterschlupf gesucht. Komm, wir fragen mal die Enten da drüben im Dickicht.«
    Früher hätte Harry das Schnattervieh nicht mit dem Hintern angeguckt, jetzt fliegt er sofort mit mir zum Ufergebüsch, aus dem zahlreiche Entenschnäbel herausschauen. Als wir auf sie zugehen, weichen die Enten ins Dickicht zurück, und dann beginnt ein vielstimmiges Protestgeschnatter.
    »Seid doch mal still«, ruft Harry, »wir wollen keinen Unterschlupf, ich will nur wissen, ob ihr meinen Sohn gesehen habt.«
    Eine Entenmutter tritt einen Schritt aus dem Dickicht hervor. »So eine Jungmöwe, die versucht hat, im See zu tauchen?«
    Bei Harry stellen sich die Nackenfedern auf. »Ja, das ist Grey! Wo habt ihr ihn zuletzt gesehen?«
    Die Entenmutter zeigt mit dem Flügel etwa in die Mitte des Sees. »Dort. Das sah vielleicht komisch aus.« Die anderen Enten verfallen in zustimmendes Schnattergelächter. »Selten so eine wasserscheue Möwe gesehen. Kaum dass er seinen Kopf unter Wasser hatte, hat er sich jedes Mal verschluckt. In dem Alter müsste er sich seine Nahrung aus dem Meer doch längst selbst beschaffen können. Wie soll denn aus dem Kind jemals eine anständige Möwe werden? Und dann treibt er sich bei diesem Wetter auch noch allein hier rum, von den Eltern im Stich gelassen. Wo ist denn überhaupt die Mutter dieses armen Jungen?«
    »Das geht dich einen Möwendreck an. Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten und ramme dich mit deinem vorlauten Schnabel gleich ungespitzt in den Boden, wenn du mir keine Antwort auf meine Frage gibst!«
    »Schscht«, versuche ich beruhigend auf Harry einzuwirken.
    »Ich habe dir eine Antwort gegeben«, gibt die Entenmutter unerschrocken zurück.
    »Und wo ist mein Sohn jetzt?«
    Die Ente zuckt mit den Flügeln. »Zuletzt haben wir ihn bei seinen Tauchversuchen gesehen. Dann ging das Gewitter los.«
    Drohend breitet Harry seine Schwingen aus. »Wehe, mein Sohn ist ertrunken, und ihr habt ihm nicht geholfen. Dann verarbeite ich euch zu Ente süß-sauer!«
    »Hä? Du bist doch sauer, nicht wir.«
    Ich lege dem geifernden Harry den Flügel an die Brust und schiebe ihn sanft, aber bestimmt rückwärts. »Lass gut sein, Harry. Die kennen nur Algen an Schlammsauce. Und noch ist nicht gesagt, dass Grey etwas passiert ist. Lass uns weiter nach ihm suchen. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht hat er drüben in der Kapelle Schutz gesucht und wartet ab, bis der Regen nachlässt.«
    Nach einer weiteren Drohgeste lässt Harry es gut sein. Doch mit jedem Schritt, den wir uns von den Enten entfernen, wird er mutloser.
    »Dieser verdammte Schatz, diese verdammte Mordkommission – wenn wir die nicht ins Leben gerufen hätten, wäre mein Sohn nie verschwunden. Ich hab den Schnabel voll. Diese blöde Ente hat schon recht. Für eine Jungmöwe ist dieses Leben in einer kriminellen Vereinigung nichts.«
    Die letzten Worte muss unser Scheff mitbekommen haben. Er sitzt immer noch auf der Brüstung, beobachtet die Wasseroberfläche und lässt stoisch die Regentropfen auf die Thunfischdose prasseln. Jetzt aber dreht er den Kopf zu uns und sagt: »Ich dachte, Harry, du wärest so erpicht darauf, mein Nachfolger zu werden?«
    »Dein Nachfolger? Von welcher Truppe denn ganz genau? Siehst du hier noch irgendwen außer uns dreien? Wenn mir der heilige Albatros meinen Sohn lebend zurückgibt, dann soll Grey ein besseres Leben führen und nicht in meine Fußstapfen treten müssen. Ich werde ihm ein Vorbild sein, mir eine Frau suchen und ihm ein Leben in einer ordentlichen Familie bieten.«
    »Deine Einsicht in allen Ehren, lieber Harry, aber sie kommt reichlich spät«, konstatiert unser Scheff und langt damit voll in die Wunde.
    Harry ist drauf und dran, zu ihm auf die Brüstung zu hüpfen und die Sache an Ort und Stelle zu klären. Da ich aber keine Lust habe, einen von beiden – und zwar wahrscheinlich unseren Scheff – aus dem Dorfteich zu fischen, versuche ich es mit Vernunft.
    »Wenn wir Grey finden wollen, bringt es nichts, dass wir uns jetzt streiten, oder? Lasst uns in der Friesenkapelle nachsehen.«
    Der Eingang zur Kirche liegt vom Wind geschützt, und die Tür steht offen. Wir schleichen uns hinein. Der Innenraum wirkt hell und freundlich, trotz des wenigen Lichts, das von draußen hereinfällt. Wir gehen an den hellblau gestrichenen Holzbänken entlang. Kein Mensch da. Wir rufen nach Grey. Wow, ist das ein Echo. Da

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