Mordsonate
jemals zuvor so allein gelassen gefühlt wie jetzt?
Er war 35, und sein Leben hatte noch nie sonderlich viel aus Nachdenken über sein Leben bestanden. Er hatte einfach gelebt, das war alles. Bei bestimmten Gelegenheiten hatte er sich, wie vermutlich die allermeisten seiner Mitmenschen auch, über die Schnelligkeit gewundert, mit der dieses Leben verstrich, seit er kein Kind mehr war; ganz so, als gelte es, so schnell wie möglich das Ende zu erreichen.
Peter Aberger hatte ein paar konkrete Ziele vor Augen gehabt und die meisten davon erreicht, weil er in der Regel angestrebt hatte, was für ihn auch erreichbar war: die Bilanzbuchhalterprüfung etwa. Ein schöner Erfolg – zwar mit einigen Anstrengungen verbunden, aber keineswegs außerhalb seiner Möglichkeiten.
Nein, zu keinem Zeitpunkt seines Lebens hatte er mit seinen Plänen und Wünschen sein Schicksal herausgefordert. Er war ganz selbstverständlich immer davon ausgegangen (und auch so erzogen worden), dass er selber sein Schicksal war. Und so hatte er, anstatt Luftschlösser zu bauen, frühzeitig die Anzahlung für eine Eigentumswohnung in einer noch leistbaren Gegend der Stadt Salzburg getätigt.
Und jetzt … jetzt musste er plötzlich von einem Augenblick auf den anderen erleben, dass er nur noch einen einzigen Wunsch hatte, zu dessen Erfüllung er offenbar selber überhaupt nichts beitragen konnte. Denn was, um Himmels willen, blieb ihm denn noch zu tun, damit er seine Tochter schnellstmöglich unversehrt zurückbekam?Er wäre zu allem bereit gewesen – aber niemand forderte etwas von ihm. Oder würden diese Forderungen erst noch kommen? Würde alles wie in einem Fernsehfilm ablaufen? – Doch wer sollte seine Familie ernsthaft zum Ziel einer Erpressung machen wollen? Dieser Gedanke kam ihm völlig abwegig vor.
Weshalb fiel es ihm jetzt immer schwerer, darauf zu vertrauen, dass sein Kind tatsächlich heimkehren würde? Mit jeder Stunde schwand ein Stück seiner Hoffnung.
Weil Anna schon mehrmals wiederholt hatte, dass sie so ein ungutes Gefühl habe? Obwohl er doch immer noch davon ausgehen wollte, dass sich alles schon bald als harmlos herausstellen würde. Warum sollte es denn nicht so sein, dass Birgit ihn wegen heute Morgen einfach bestrafen wollte und irgendwo saß, um die Zeit verstreichen zu lassen, weil sie wusste, dass sich die Eltern ängstigten. Vor allem ihr aufbrausender und knauseriger Vater sollte sein Verhalten von heute Morgen bereuen, damit er sich endlich ändere. Und jede weitere Stunde, die sie ihre Heimkehr hinauszögerte, würde sie diesem Ziel näher bringen. Warum sollte nicht das der Grund für Birgits Fernbleiben sein? Sosehr er sich bemühte, er fand einfach nichts, was ihm naheliegender schien. Und doch machte sich in ihm mehr und mehr Panik breit.
Plötzlich war ihm klar, wie allein Anna und er jetzt waren, während die Angst um das Kind in einem fort übermächtiger wurde. Und als er sich ein ums andere Mal sagte, dass Anna und er jetzt absolut allein waren mit ihrer Angst, kam ihm der Gedanke, dass man sich wahrscheinlich die meiste Zeit seines Lebens nur deswegen nicht so alleingelassen fühlte wie er und seine Frau in diesem Moment, weil man immer dann, wenn man keiner besonderen Hilfe bedurfte, einfach nicht bemerkte, dass man alleinwar. Fürchterlich allein. Weil ein unauffälliges Durchschnittsleben wie das, welches die kleine Familie Aberger führte, zumindest so lange, bis Birgits Musiktalent aufgefallen war, weil diese Durchschnittsexistenz vielleicht überhaupt nur daraus bestand, über das Gefühl des Alleingelassenseins hinwegzugehen. Da es ja gar nicht auszuhalten wäre, würde man sich diesen Umstand ständig bewusst machen. Wenn man Glück hatte, passierte die längste Zeit ohnehin nichts Gravierendes, nichts, was einen mit dieser rücksichtslosen Gewalt auf die Tatsache hinwies, dass man halt einfach alleingelassen war.
Nein, er konnte sich nicht entsinnen, jemals solche Überlegungen angestellt zu haben. Er war ein kaufmännischer Angestellter, der ein Faible für Autos hatte, sich im Fernsehen gerne Fußballspiele und andere Sportübertragungen ansah und trotz Bedenken dann doch nicht gekniffen hatte wie viele seiner Kollegen, als es darum gegangen war, sich für die Wahl zum Angestelltenbetriebsrat aufstellen zu lassen, obwohl ihm klar gewesen war, dass er nur einen Listenplatz zu füllen, also nichts anderes zu gewinnen hatte, als in den Augen der Geschäftsführung womöglich als unsicherer
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