Mordsonate
zitterten, als sich die Hände den Tasten näherten. Wie lange würde sie brauchen, bis … vor allem juckte der Rücken jetzt wieder so stark. Birgit überwand ihre Angst und kratzte sich schnell und fest, was ihr von ihrem Entführer sofort in scharfem Ton untersagt wurde. Sie solle sich endlich auf das Spiel konzentrieren. Denn sie wolle doch nicht versagen, oder? Immerhin sei sie die Allerallerbeste!
Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, versuchte sie die Grundstellung einzunehmen. Sie konnte die Sonate natürlich längst auswendig. Aber die Finger … wie sollte sie mit diesen zitternden Fingern spielen? Bevor sie die Tasten anschlug, hob sie ihre Hände wieder zu den Notenblättern, um Zeit zu gewinnen und vielleicht doch noch ihre Fassung wiederzuerlangen.
Nachdem sie die Papiere hin und her geschoben hatte, nahm sie allen Mut zusammen und sagte mit unsichererStimme: »Ich … ich muss mich ein bisschen … ein bisschen einspielen, vorher. Die Hände sind … von den Fesseln …«
»Na so was!« höhnte der Mann in ihrem Rücken. »Das Wunderkind muss sich erst einspielen …«
»Ja …«
Birgit schlug einige Akkorde an und versuchte einen Lauf. Das Pianino klang grauenvoll verstimmt. Wie sollte sie darauf spielen, selbst wenn es ihr irgendwie gelang, sich zu konzentrieren? Ein dermaßen verstimmtes Instrument … nicht auszuhalten! Damit könne sie sich doch sowieso nur blamieren. Bei dieser Vorstellung liefen ihr die Tränen über die Wangen, die sie schnell mit dem Handrücken fortwischte, während sie fieberhaft überlegte, ob sie es wagen sollte, den Mann auf das verstimmte Pianino hinzuweisen … wohl besser nicht, wer weiß, was er dann tun würde.
»Ja, was ist denn mit dem Wunderkind? Wo sind denn die grandiosen Fähigkeiten, mit denen du alle anderen ausgestochen hast? Von denen deine Professorin so schwärmt, wo denn, ha? Gibt es sie vielleicht gar nicht? Ist das Wunderkind vielleicht gar keines?«
Birgit schluchzte verhalten auf. Der Mann wies sie aber nicht sofort wieder zurecht, sondern schwieg eine Zeitlang so, als würde er nachdenken, bevor er sich erneut vernehmen ließ: »Schön langsam müsste aber auch ein Wunderkind imstande sein, mit dem Konzert anzufangen, meinst du nicht auch?«
Birgit, die ihren Einwand gegen die Bezeichnung »Wunderkind« unterdrückte, überlegte, was der Mann von ihr eigentlich erwarte, durch welches Verhalten sie ihn am wenigsten gegen sich aufbringen würde – denn alles, was er zuletzt so spöttisch gesagt hatte, klang eher danach, als würde er sich über ihre Schwierigkeiten freuen. Sollte siealso gar nicht versuchen, so gut wie möglich zu spielen? Ging es ihm um ihr Versagen? Aber wozu dann ihre Finger weltberühmt machen?
Birgit kannte sich nicht mehr aus.
Noch einmal wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, und dann war ihr alles egal. Sie wollte nur eines: dass dieser Alptraum möglichst bald zu Ende war. Es war ihr völlig gleichgültig, wenn sie sich blamierte, weil er ihre Finger weltberühmt machte, während sie kläglich versagten.
All das war ihr gleichgültig, als sie ihr Spiel begann, das in ihren Ohren noch weitaus schrecklicher klang, als sie es angesichts dieser Umstände befürchtet hatte.
Auf einmal vernahm sie die stark veränderte Stimme des Mannes, mit der er offenbar eine Frau nachahmte: »Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen, einem so etwas zuzumuten? Mozart so zu spielen?! Wie hört sich das denn an? Das ist ja furchtbar! Eine Qual, so etwas hören zu müssen.«
Birgit begann zu weinen, aber ihr Entführer reagierte jetzt nicht darauf, sondern setzte seine Vorwürfe fort: »Du hast genau gewusst, dass dies deine letzte Chance … und dann so zu spielen … ich werde jetzt offen mit deiner Mutter reden müssen. Es ist doch alles hoffnungslos bei dir!«
Birgit schluchzte laut auf, als die Stimme hysterisch schrie: »Mozart … Mozart, weißt du, was Mozart tun würde, wenn er so etwas hören müsste?
Weinen
würde er, jawohl, weinen!«
Da sie sich angesprochen glaubte, schluchzte Birgit: »Aber das Instrument, es ist ja so –«
Da fiel ihr der Mann ins Wort: »Was mischst du dich denn da ein … du hast gar nichts … spiel endlich weiter! Du sollst nur spielen. Spielen!«
Verwirrt spielte sie weiter und beschwor sich erneut: Das alles sollte ihr gleichgültig sein.
Und als sie den Mann wieder mit einer Art Frauenstimme schimpfen hörte – »Nein! Nein, nein, nein! Keine Ausreden mehr!
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