Mordsonate
würde, denn Pop- oder Volksmusik waren ausgeschlossen. Wenn sich das Konzept bewährte, sollte die Veranstaltung alle zwei Jahre über die Bühne gehen, jeweils in einer anderen europäischen Stadt.
Vera wusste natürlich, dass wirklich nur Birgits wohlbehaltene Rückkehr zählte, selbst wenn sie erst nach dem Wettbewerb erfolgen sollte, und doch wurde die Frau, die während der gesamten Anwesenheit des Polizeibeamten, der ihr ein Glas Wasser gebracht und sich dann neben sie gehockt hatte, auf dem Boden liegen geblieben und sich erst, nachdem der Polizist gegangen war, langsam wieder aufgerichtet und hinter ihren Schreibtisch gesetzt hatte, von der Panik beherrscht, nun womöglich nicht mit Birgit Aberger in Vilnius dabei sein zu können.
Vera war noch völlig verwirrt, als nach kurzem Klopfen Hans Weger in der Tür stand, Anjas Vater, dessen Ehrgeiz Birgits Entdeckung zu verdanken war und den die Professorin im Gegensatz zu seiner Tochter nicht besonders leiden konnte. Sie hatte ihn meist, zuletzt nach der in Wien erfolgten Ausscheidung für die Teilnahme in Vilnius, als Menschen erlebt, der seine Unsicherheit durch übertriebene Forschheit im Auftreten zu kaschieren suchte. Und der Vera auf eine unangenehm bedrängende Art jedes Mal vermitteln zu wollen schien, dass es ausschließlich auf seinen Willen ankäme – und wenn die Professorin mitmache, solle es ihr Schaden nicht sein. Natürlich war Vera Stelzmann dem Mann gegenüber nicht unvoreingenommen,der eine so offen kunstfeindliche Partei repräsentierte – auf diesen Umstand war die aus München Kommende sofort von vielen Seiten hingewiesen worden.
Sie lud Anjas Vater nach einem flüchtigen Händeschütteln mit einer knappen Bewegung ein, auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. Der heute ein wenig nachlässiger als sonst gekleidete Mann kam ohne Umschweife zur Sache und ließ die Professorin wissen, dass es sich doch wohl von selbst verstehe, dass nunmehr, wo Birgit leider verschwunden war, die Zweitgereihte nach Vilnius fliegen würde. Er erwarte sich von der Professorin, dass sie Anja unverzüglich auf die Teilnahme vorbereite. Die bis zum Wettbewerb verbleibende Zeit sei ohnehin schon knapp, und so nehme er seine Tochter natürlich ab morgen aus dem regulären Schulunterricht. Das Mädchen stehe der Professorin gewissermaßen rund um die Uhr zur Verfügung. Sämtliche Extrakosten, die dadurch anfielen, übernehme er in voller Höhe. »Ich erwarte mir von Ihnen, dass jetzt meine Tochter ihre Chance bekommt!« Er konnte sich die Drohung nicht verkneifen, seine Beziehungen zu nützen, sollte dies nicht geschehen.
Vera atmete tief durch und nickte. Sie hatte selbst schon an Anja gedacht, sollte Birgit tatsächlich nicht rechtzeitig wieder da sein. Anja spielte sehr gut, hatte nach Veras Meinung den zweiten Platz verdient, aber der Abstand zu Birgit war alles andere denn klein und ihre Chancen keineswegs mit denen ihrer Freundin zu vergleichen. Auch wenn Herr Weger unmittelbar nach der für ihn so enttäuschenden Entscheidung trotzig gemeint hatte, dass seine Tochter doch nur für die politische Partei ihres Vaters büßen musste, die von der ganzen Kulturschickeria vehement abgelehnt werde. In seiner schier maßlosen Enttäuschung hatte der Mann Vera damals sogar leidgetan.Natürlich hatte sie sich verkniffen zu sagen, dass sein liebenswürdiges Kind zum Glück nichts an sich hatte, was einen an die abstoßende Politik der Partei ihres Vaters denken lasse. Denn auch Vera war sich bewusst, dass für den unwahrscheinlichen Fall, dass die beiden Mädchen vergleichbare Leistungen erbracht hätten, wohl tatsächlich das eingetreten wäre, was Anjas Vater der Jury unterstellte. Und so hatte sie nach der Entscheidung für Birgit den aufgebrachten Mann mit der Versicherung zu beruhigen versucht, dass Anja fraglos zum kleinen Kreis ihrer begabtesten Schülerinnen zähle, für ihr Alter über beachtliches technisches Können verfüge und sehr fleißig sei. Aber für die Jury, welche die Entscheidung nun gefällt habe, sei die Ausdruckskraft von Birgits Spiel ausschlaggebend gewesen, und die sei sensationell. Ein Talent, das einem vielleicht alle zwanzig Jahre einmal unterkomme. Aber auch Anja werde ihren Weg machen, hatte sie den aufgeregten Mann zu beruhigen versucht, der ihr da erstmals als Mensch kenntlich geworden war, nicht als das Karrieremodel, als das er aufzutreten pflegte. So hatte sie auf den außer Rand und Band geratenen Mann eingeredet, den auch seine
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